Vom Ende her denken

Was bleibt am Ende meines Lebens? War ich ein gut funktionierendes Rädchen in der Arbeitswelt? Kümmern sich Arbeitgeber darum, wie ich mein wahres „Ich“ finde? Will dieser riesige Molloch der Arbeitswelt überhaupt, dass wir werden, wer wir im innersten Wesen sind? Oder ist er nur daran interessiert, was er braucht. Um die Profite zu steigern. Irgendwann haben wir uns vor lauter Anpassung von uns selbst entfremdet. Schauen unentwegt in die Zukunft, planen und hetzten durch den Alltag. Doch unser Lebensfaden, der kann jederzeit abgeschnitten werden, jederzeit. Urplötzlich, ohne Vorwarnung. Ob Jung oder mitten im Leben stehend. Durch Unfall, Krankheit oder Alter. Was bleibt am Ende?

Gibt es eine Schule des Lebens? Eines Lebens, das gelingt?

Ein Text aus dem Buch des Propheten Jesaja, die spricht mir aus dem Herzen.

Zu Beginn eine Einordnung. Es geht um den jüdischen Königs Hiskia. Hiskia war ein direkter Nachfahre Davids. Er war ein frommer Mann und lebte in einer politisch schwierigen Zeit. Dennoch freute er sich seines Lebens, übte seine Regierungsgeschäfte gewissenhaft aus, liebte das Beisammensein mit anderen Menschen und nahm auch gern an den Gottesdiensten im Jerusalemer Tempel teil. Da wurde er plötzlich sterbenskrank. Er war noch keine vierzig Jahre alt und hatte bisher überhaupt noch nicht ans Sterben gedacht. Doch der Prophet Jesaja besuchte ihn und sagte ihm im Namen Gottes: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben.“ Hiskia kann es nicht fassen. Die Krankheit ist ein Schock. Der Boden, der ihn immer getragen hatte, ist eingebrochen. Der Grund ist zu einem Abgrund geworden. Die Verzweiflung packt ihn, er ringt sehr mit der Krankheit und mit Gott. Nach seiner Genesung erinnert er sich genau daran, was ihm in seiner Todesnot durch den Kopf schoss. In dem Dankgebet sind seine Sterbegedanken festgehalten. Sie stehen in Jesaja 36, die Verse 9-20:

 

9 Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war: 10 Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. 11 Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den HERRN, ja, den HERRN im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. 12 Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. Tag und Nacht gibst du mich preis; 13 bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis. 14 Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! 15 Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat's getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele. 16 Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Das lässt mich genesen und am Leben bleiben. 17 Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück. 18 Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; 19 sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. Der Vater macht den Kindern deine Treue kund. 20 Der HERR hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des HERRN!

Hiskia findet starke und bedrückende Bilder für seine Not. Wie einem Nomaden ist ihm das Zelt über dem Kopf zerrissen und da liegt er ohne Schutz. Bewegungslos ist er den Gefahren ausgeliefert. Die Kälte dringt in seinen Körper. Sein Leben erscheint ihm wie das Werk eines Webers: Und nun ist es zu Ende gewebt und wird vom Webstuhl abgeschnitten. Wie leicht geht das: Den Lebensfaden abzuschneiden für immer. Wie nah ist der Tod in jedem Augenblick. Sein Weg durch die Krankheit ist ein Weg mit Gott. Hiskia glaubt, dass Gott der Urheber seines Leidens ist. Und so ist Gott auch der Adressat seiner Klage: Er hat es getan! Gott trägt die Schuld! Er schneidet meinen Lebensfaden ab! Er zerbricht mir die Knochen! Hiskia geht auf Distanz. Um im nächsten Moment sich wieder seinem Gott zuzuwenden: Du, Gott, hilf mir. Ob Gott uns Krankheiten schickt, wie Hiskia das glaubt? Ich bin mir nicht sicher. Aber dass er uns Fragen stellt und Hinweise gibt in der Krankheit, das denke ich schon.

 

Doch darf man vor Gott klagen, ihn auch anklagen? Manche Menschen trauen sich gar nicht zu klagen. Nur ein Beispiel: Auf die Frage, wie sie durch die Coronazeit gekommen sind, höre ich oft: Ich darf nicht klagen, anderen geht es noch schlechter. Klar, anderen geht es schlechter. Aber wer nie klagt, findet auch kein Gehör. Wer nie klagt, bekommt keine Hilfe. Das möchte ich bei Hiskia lernen: richtig zu klagen! Er klagt Gott an. Das ist jedenfalls besser, als den Partner anzuklagen oder in ein selbstmittleidiges Jammern zu verfallen. Gott hört meine Klage. Gott hält das aus. Gott hat nicht irgendwann zu viel und will mich nicht mehr besuchen kommen.

 

Ein weiterer Aspekt. Hisikia kommt durch die Verzweiflung hindurch zum Singen und Spielen! Ganz plötzlich schlägt die Stimmung um, und Hiskia schildert die Rettung aus seiner Krankheit. War vorher alles Verzweiflung, erklingt jetzt das Lob. Auch in anderen Psalmen gibt es diesen plötzlichen Umschwung, als hätte einer den Schalter umgelegt. Das Dunkel geht vorbei und Licht und Klang werden hell und fröhlich. Doch im Leben ist das meist nicht so. Eine Krankheit kann Wochen, Monate dauern, Jahre sogar, bis die Gesundheit sich wieder langsam ins Leben hineinschleicht. Es gibt vielleicht Rückschläge. Unser Leben ist oft vom Auf und Ab geprägt. Was mir bei Hiskia auffällt: In seiner Beziehung zu Gott gibt es kein Nacheinander: Erst die Krankheit, in der Gott fern ist; dann die gute Zeit der Gottesnähe. Gott berührt ihn auch und gerade in der Krankheit.

 

Den Wert der Gesundheit spüren: Das kann ich erst so richtig nach meinem Treppensturz vor ungefähr 2,5 Jahren. Urplötzlich, in Bruchteilen einer Sekunde ausgerutscht auf einer glatten Treppenstufe. Keine Chance zu reagieren. Kompletter Abriss der Quadrizepssehne am linken Knie. Keine Verletzung am Kopf oder am Rücken - Gott sei Dank! Meine Erkenntnis: ich habe in meinem Leben nichts wirklich in Griff – und: mein Leben ist begrenzt und vergänglich. Ich bin auf Hilfe angewiesen, wo ich doch so gern selbstbestimmt lebe.

 

Vielleicht kommt es in meinem Leben doch nicht auf meine Kraft und meine Gesundheit, meine Leistung an. Sondern ob in meinem Leben Liebe durchscheint, Güte und Menschlichkeit. Tägliches üben den 9 Tugenden, wie Demut, Vergebung, Mitgefühl und Hingabe. Als Gegenpol zu den Todsünden wie Neid, Habgier und Hochmut. Vor diesem Hintergrund kann selbst Krankheit zum Ort werden, an dem ich etwas neu vom Leben begreife und anders weitergehe. Gott geht diesen Weg mit. Zu Gottes Weg mit uns gehören auch Krankheit und Verzweiflung. Aber er führt uns auch zu neuen Aufbrüchen. In kleinen Zeichen kann ich seine Nähe spüren: Im Beistand, den ich erlebe, in freundlichen Menschen, die sich mir zuwenden. Erst durch die Krankheitserfahrung kann Hiskia das sehen. Er erfährt, was das bedeutet: Gott gibt mir Halt. Gott hört mein Schreien.

 

Trotz allen Überschwangs - bei Hiskias Lob schwingt ein Schatten mit. Ein Schatten, der das Lob aber noch heller leuchten lässt. Dieser Schatten ist Hiskias Erfahrung der Tiefe. Die fast zerschlagene Seele, der nahe Tod, oder die tiefe Verzweiflung, die kein Leben mehr kennt. Er lobt Gott dafür, dass er diesen Weg aus der Verzweiflung mit ihm gegangen ist: Aus der Finsternis wurde Tag. So ist der Weg Gottes mit Hiskia, so ist der Weg Gottes mit uns. Wie oft sind wir schon wieder gesund geworden! Aber es geht um mehr als eine Heilung des Körpers. Auch mitten in der Krankheit, auch wenn wir krank bleiben auf Dauer: Dann erfahren wir vielleicht Gottes Ferne, aber auch seine heilende Berührung. Krankheit und Rettung waren für Hiskia eine Gotteserfahrung. Die Beziehung erneuert sich, vertieft sich zu Gott, den er jetzt „Vater“ nennt. Und ganz bestimmt sieht Hiskia auch anders auf die Menschen, die mit ihm auf der Welt sind. Denen auch in Klage und Lob, in Krankheit und Gesundheit der Gott nahe ist, der sich unserer Seele herzlich annimmt, der uns leben lässt und uns heilt.

 

Neben dem Klagen möchte ich von Hiskia noch eines lernen: Das Leben vom Ende her sehen. Den Lebensfaden abzuschneiden für immer – wie leicht geht das. Wie nah ist der Tod in jedem Augenblick. Es sind heute erst einige Tage vergangen. Eine 29-jährige Frau, ohne Vorerkrankungen, starb an Corona.

 

Das Leben vom Ende her sehen. Es gibt Menschen, die befanden sich schon einmal auf der Schwelle des Todes und sind dann doch am Leben geblieben. Viele von ihnen sehen ihr Leben seitdem mit anderen Augen an und leben viel bewusster. Für sie ist jetzt jeder neue Tag wie ein Geschenk! Wir, die wir so etwas nicht erlebt haben, können das wohl nicht völlig nach­empfinden. Wohl aber können wir lernen: Wenn man das Leben vom Ende her sieht, vom Sterben-Müssen, dann bekommt unser Leben eine neue Qualität. Mancher meint: In der Kirche wird zu viel vom Tod geredet und zu wenig vom Leben hier in dieser Welt. Aber erst wenn wir den Tod richtig einschätzen, können wir die Gabe des Lebens richtig ermessen und recht gebrauchen.

 

Es ist eine Bereicherung unseres Lebens, wenn wir lernen, das Leben vom Ende her zu sehen! Drei Phasen können wir im Leben des Königs Hiskia erkennen. Erste Phase: Er freut sich seines Lebens und nimmt es selbstverständlich hin; er rechnet nicht wirklich mit dem Tod. Zweite Phase: Er gerät in Todesnot und schreit zu Gott um Hilfe. Dritte Phase: Er erfährt Rettung und lebt viel dankbarer und bewusster als vorher; er nimmt nun sein Leben als Gabe aus Gottes Hand. In welcher Phase befinde ich mich gerade?

 

Hiskia ist später doch gestorben. Wenn es einmal soweit kommt, dass wir in Todesnot geraten und Gott um Genesung anflehen, dann können wir nicht sicher sein, ob er uns in dieser Welt noch am Leben lässt. Aber letztlich ist das, was Hiskia in seiner tödlichen Krankheit erfuhr, das Vorzeichen für ein besseres Leben – das Leben, in das unser Herr Jesus Christus auferstanden und uns vorausgegangen ist: Das Leben im Paradies. Was Gott mit Hiskias Genesung verheißen hat und durch Jesus Christus erfüllte, ist seine Zusage an uns: Ihr braucht nicht um eurer Sünde willen zu sterben, sondern ihr sollt leben – für immer; das will ich euch schenken. Wenn wir uns klar machen, dass wir solch einen Gott haben, dann werden wir jetzt schon viel dankbarer und bewusster leben.