Großzügigkeit

Es ist unglaublich, aber wahr. Nicht für jeden Menschen nachvollziehbar: Die tiefere Bedeutung der Tugend der Großzügigkeit - diese für sich zu entdecken und ins eigene Leben zu bringen, das öffnet Horizonte. Kaum in Worte zu fassen.

Zunächst ein Blick in meine persönliche Geschichte. Vieles war innerlich schwer, meist im Ringen mit mir und der Welt. Frühkindliche Prägungen waren bis heute wirkmächtig. Aber heute, da fühle ich mich wie befreit. Innere Bilder und Vorstellungen verblassen, haben zunehmend weniger Macht über mich. Ich fühle Weite in mir, Verbundenheit mit der Welt. Erfüllt von Freude, die sich pulsierend ausbreitet. Im ganzen Körper. Frei von so vielen Lasten. Mir ist in so vielen Facetten bewusst geworden, wie viel Großzügigkeit ich erfahren habe in meinem Leben. Ein Beispiel nur an dieser Stelle: Mündliche Abi-Nachprüfung in einem Fach.

Zwei Prüflinge mit je einem Thema. Mit Mühe alles auswendig gelernt. Kritischer Blick der Prüfer während ich die Lösung an die Tafel schreibe. Perfekt gelungen, dachte ich. Sanfter Hinweis, noch mal genau zu schauen – ich hatte alle Vorzeichen verdreht und genau das gegenteilige Ergebnis erzielt. Mir wurde Raum geben, alles zu korrigieren. Bestanden!

Erst heute im Rückblick: Was für ein Geschenk, geboren auf Großzügigkeit. Aus einer Art von Großzügigkeit, die bedingungslos ist. Nichts fordert, nichts erwartet. Ganz anderes als die „bedingte“ Großzügigkeit. Da wird in Grund immer etwas als Resonanz erwartet, etwa ein Dank, eine Anerkennung. Die bedingungslose Großzügigkeit hat keine Erwartung. Sie freut sich an ihrem Tun, auch wenn es vom Empfänger unbemerkt bleibt. So war es bei mir in der Abi-Prüfung.

Tja, und ich dachte bislang, Großzügigkeit drückt sich im Spenden von Geld aus. In sonst nichts. Doch das mit dem Geld, das ist auch ein schmaler Grad. Menschen mit viel Geld: tut ihnen das weh, zu spenden? Oder wird nur das eigene Gewissen beruhigt. Wobei das Gewissen keine stabile Instanz ist. Es dient nur der Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls.

Im Rückblick auf meine Abi-Prüfung und dem Impuls einer Herzensfreundin verändert sich meine Sicht. Meine Freundin sagte vor ein paar Tage sinnbildlich zu mir, ich sei für sie das Sinnbild für Großzügigkeit. So wie ich mich und meine Zeit in die von mir gestalteten Gottesdiensten einbringe. Da war ich erst mal sprachlos und zuerst peinlich berührt – es ist doch nur ein Ehrenamt. Doch jetzt verdichtet sich in mir die Erkenntnis: im Grunde ist auch selbstlos geschenkte Zeit ein Ausdruck der Tugend der Großzügigkeit. Bestimmt drückt sich diese auch in vielen anderen Dingen – in materiellen oder auch im immateriellen Dingen aus. Im Großen wie im Kleinen; das gilt es zu entdecken. Ich denke im Moment konkret zuerst an meinen Junior. Den gilt es zu fördern, ins Leben hinein. Zeit, Geld und Geduld sind gefragt. Ich selbst konnte erst später im Leben entdecken, dass auch ich so gefördert wurde – die Großzügigkeit der Eltern. Fehler werden auf diesem Weg immer gemacht, da kann ich inzwischen ganz gut drüber hinwegsehen. Das Geschenk das ich erhalten hatte, gilt es jetzt weiterzugeben. Das fühlt sich gut und richtig an.

Zurück zu meinem neu entdeckten Erfahrungsraum: Er fühlt sich innerlich so frei und weit an! Ich muss keine Kraft mehr aufwenden, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erzwingen. Schluss mit der schier unendlichen Jagd nach Wertschätzung. Gebundene Lebenskraft bisher. Nach diesen Erfahrungen durchpulst mich reine Freude, Freude am Sein. Und es ist Frieden in mir.

Ab hinaus ins Übungsfeld des Lebens! Eine wunderbare Prüfung ist heutzutage der Straßenverkehr. Gleich die erste Herausforderung nach 500 Metern: Ich sehe eine Frau am Bordstein stehen. Sie steht und wartet. Wartet mit dem Überqueren der Straße, bis ich so nahe bin, dass ich bremsen muss. Ich bremse, sie geht über die Straße. Nur ein Gedanke kam in mir hoch, ohne emotionale Anhaftung: „Die Frau hat gewartet, bis ich bremsen muss“. Dann war der Gedanke wieder weg. Reines, klares beobachtendes Bewusstsein. Frieden in mir.

„Denn es liegt im Geben, dass wir erhalten“ (Franz von Assisi). Mit der Qualität, des „nichts erwarten“. Erhalten: Morgens früh beim Bäcker, freundliches Gespräch, dann mit meinem Brot zur Vespa gegangen. Das Brot in den Kofferraum gelegt, den Helm wieder aufgesetzt und den Motor gestartet. Plötzlich ein aufgeregtes Rufen. Die Verkäuferin kam aus dem Laden gelaufen und hatte meine Brotkarte in der Hand. Danke! Nicht planbar, ein Geschenk des Lebens, wenn man dies alles wertschätzen kann.

Ja, im Rückblick auf mein Leben: Es liegt ein unendlich großer Segen auf meinem Leben. Ich bin zutiefst dankbar und Glücklich. Was für eine Freude, die sich verschenken will.

Was für Entdeckungen auf der 9-wöchigen Reise durch die 9 Tugenden, welch ein Reichtum im Leben. Bislang unentdeckt. Ich bin der Gruppe und unserer Lehrerin, Dr. Katja Held, sehr dankbar. Und die Neugier auf die nächsten Tugenden ist geweckt!

 

Ein Nachtrag; vom Februar 2021: Hochwasser in einer Stadt in Hessen - parallel dazu gewinnt eine Frau in einer Radiosendung den Hauptpreis. Ihr Wunsch, ihr Badezimmer zu renovieren. Doch sie entscheidet um. Spendet vom Gewinn 1/3 an eine Freundin, deren Haus überflutet wurde. Ein weiteres 1/3 an eine andere Freundin, deren Pferdestall in den Fluten unterging. Den Rest spendetet sie der Stadt; es gibt so viele Menschen die Hilfe brauchen. So Ihre Interntion. Mir kommen beim hören dieser Nachricht die Tränen, tief berührt von so viel Großzügikeit, geboren aus Mitgefühl. Doch es ging noch weiter: Ein Fließenleger aus einer Großstadt in der Nähe rief beim Sende an: Er spendet die Fließen für das Bad, und sein Freund vor Ort, auch ein Fließenlegen - der verlegt die Fließen, ohne Geld dafür zu verlangen. Laßt Euch davon berühren; es gibt so viel Menschlichkeit in dieser Welt.

 APPLIEDCOREVALUES®  all together for everyone“  Dr. Katja Held

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Rüdiger Schaller, 15.11.2020

Autor des Buches: "In die Stille"