Demut

Was für eine Tugend! Und was für ein Kontrast zu einer Gesellschaft, die zunehmend nur noch das „Ich“ kennt, nicht mehr das „Du“.

Ein Blick zurück in der Geschichte dieses Landes. Eine ikonische Geste der Demut: Der Kniefall von Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Gettos. Jener Ort, den die Deutsche einst in eine Hölle auf Erden verwandelt hatten. Mir kommen jedes Mal Tränen der Rührung, wenn ich dieses Bild sehe. Gerade der kniet nieder, der das nicht nötig hat. Er kniet für alle, die es nötig haben, aber nicht dort knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat. Und bittet er um eine Vergebung, derer er nicht bedarf. Soweit ein Reporter, der anwesend war. Zuhause tobte die Opposition vor Wut.

Mich berührt bei dieser Geste vor allem, das Willy Brandt sich nicht klein gemacht hat. Für ihn war die Geste keine Erniedrigung. Sie kam aus freien Stücken und war keine Unterwerfung. In der Demut zeigt sich die innere Wahrhaftigkeit und Größe dessen, der sich beugt. Willy Brandt wollte nicht gelobt oder gemocht werden. Ihm war klar, wieviele Anfeindungen er in Deutschland zu erwarten hatte. Er wurde dort ja so oft verachtet, als Herr Frahm bezeichnet, sein Geburtsname. Er sollte damit gedemütigt werden. Auch ging Willy Brandt später mit diesem Ergebniss nicht hausieren, Stolz war ihm fremd.

Demut, Demut in meinem Leben? Das wäre so schön! Wenn da nicht die Menschen wären! Vor zwei Jahren, tief versunken in der Schönheit und Größe der Natur. Gegen Mitternacht, auf einem Feldweg, im Hintergrund dunkle und schweigende Wälder. Beschienen vom Vollmond, keine Wolke ist am Himmel zu sehen. Ein prachtvolles Sternenzelt überspannt alles. Auch Licht von Sternen, die schon längst verloschen sind. Ein tiefes Gefühl von Freude und Dankbarkeit durchzieht mich. Ich bin Teil einer viel größeren Wirklichkeit, als ich es bin. Unendlich klein und doch unendlich wertvoll. Schweigend verharre ich. Bis, ja bis ich tappende Schritte höre. Ein greller Lichtkegel beleuchtet den Weg, reißt mich aus meinem Empfinden. Ein Mitstreiter in der Bieler Laufnacht hat mich eingeholt, überholt mich. Völlig in seinem Kampf. Ich setzte meinen Weg nachdenklich fort, dem noch fernen Ziel entgegen.

Nachdenklich bin auch heute noch. Demut zu üben und ins Leben zu bringen, ist wohl eine lebenslange Aufgabe; das ist bei allen Tugenden so. Doch ist bin auf den Geschmack gekommen, auch im Blick auf die Menschen.

Ganz zu Beginn meiner Lebensreise, da brauchte mein Wesen wohl Sicherheit. Mein Selbstbild war nicht stabil, gefangen im Schmerz von empfundener Wertlosigkeit. Also Kraft aufwenden im Bessersein. Ich wollte Stolz auf mich sein- immerhin wurde ich so auch ein Ultraläufer. Auf die Willensleistung kann man auch Stolz sein; doch der Stolz darf nicht in Hochmut führen. Eher Dankbarkeit und Demut ist angesagt. Wieder erden. Unser Leben ist ein Geschenk; und endlich. Einen für mich wichtigen Ertrag nehme ich aus den Lauferfahrungen mit: Meine Willenskraft wurde gestärkt. Ausrichtung auf ein Ziel über lange Stunden in zum Teil tiefer Nacht. Orientierung im "Hier und Jetzt" - liebevoll die Gedanken, die schon weit voraus waren auf der Strecke, wieder zurückholen in der Wahrnehmung dessen, was ist. Auch kein Hochrechen von Zielzeiten; nein nur in Kontakt mit dem Atem und der Bewegung und der ständig wechselenden Eindrücke der mich umgebenden prallen Natur bleiben. Soweit ein kurzer Rückblick.

Ich war - und bin noch immer - in vielem anderen Gefangen: Furcht vor Verachtung, Furcht davor, verspottet zu werden. Um Anerkennung im Außen kämpfen, Tag für Tag. Schon am ersten Übungstag, da kommen mir die Tränen. In der Quintessenz: Ich muss nichts sein. In der Liebe muss ich nichts sein! Mir wird klar, wie sehr ich bisher an unseren Widerständen gelitten hatte. Widerstände, die oft so tief im Unterbewusstsein verborgen sind. Nun spüre ich, das unendlich viele Lasten von mir abfallen. Frei und still fühle ich mich. Ja, ich bin auf den Geschmack gekommen, die so lange und so sehr ersehnte Ruhe kann in meine Seele einkehren. Das wackelige Fundament meines bisherigen Selbstbildes, das kann ich wohl langsam verlassen. Nicht mehr Stolz auf etwas sein müssen, mich nicht mehr über andere Erheben und im Grunde unnahbar sein. Keine Fehler zeigen. All das hat so viel Kraft gekostet im Laufe der letzten Jahrzehnte. Nun kann ich mich Schritt für Schritt auf einen festeren Grund der Wirklichkeit auf meiner weiteren Lebensreise begeben. Das ist mein Ziel.

Dabei dem Psalm 139 folgen: "HERR, von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Und nähme ich die Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten." (Auszug aus der Lutherübersetzung). 

Je mehr ich mich drauf einlasse, den Inhalt in mir nachklingen lasse, entdecke ich, das diese Erkenntnis mir noch zu hoch ist; es gibt da doch etliche Widerstände in mir. Es geht da ja im Grunde um Gott und mein Eingebundesein in etwas viel Größeres als ich es bin. Dies wahrzunehmen, ähnlich wie in der Nacht im Bieler Seenland. Das hilft mir, mich auch gegenüber Menschen zu beugen. Zu Menschen, denen ich mich überlegen fühle. Wie auch gegenüber Menschen, denen ich mich unterlegen fühle. Doch da blitzt immer wieder ein bestimmter Mensch in den Übungen auf; da will ich nicht beugen. Aber mit der Zeit merke ich, dass ich auch hier milder werde. Weicher werde. Auch der Weg der Demut im Alltag gelebt, ist ein langer Weg.

Darüber auch anerkennen, wie wahr das Vater-Unser-Gebet ist: „Dein Wille geschehe..." Dies in Verbindung mit dem Psalm 139 bringt es für mich auf den Punkt: Sein Wille ist gut für mich! Demut und Hingabe an das Leben, auch an die Macht des Schicksals. Zwei Unfälle beeinflussten mein Leben. Bei dem ersten, da hadertet ich noch sehr. Letztes Jahr, nach meinem Treppensturz, da war ich nach zwei Tagen mit meinem Schicksal versöhnt. Ich wusste zwar noch nicht, was sich dadurch änderte, aber schon im Rückblick auf den schweren Autounfall vor vielen Jahren entdeckte ich, dass mein Leben dadurch in ganz andere Bahnen, in gute Bahnen gekommen war.

Ich fühle mich geborgen, erleichtert und friedlich. Voller Freude. Ich muss niemand sein, auch nicht jemand werden. Ich muss nicht alles wissen. Ja, ich darf vertrauen und mich freuen!

Noch ein Hinweis, quasi ein Beipackzettel: Diese Freude, die will ausgelebt werden. Einfach so. Sie hat kein Ziel, dessen Erreichung wichtig ist. Und diese Freude entspannt mich; ich muss nicht besser werden. Freude aus innerem Frieden geboren, das ist in der jetzt erleben Qualität für mich neu und befreiend.

Ich bin gespannt, wie meine Lebensreise weitergeht, auch welche Widerstände und Herausforderungen kommen. Nächste Woche, das steht die Tugend der Liebe „auf dem Programm“, wieder unter der Leitung meiner Lehrerin Dr. Katja Held.

 

„Wer nichts über das Dienen weiß, weiß noch weniger über die Meisterschaft.“

Tirmizi

 

 

APPLIEDCOREVALUES®  all together for everyone“  Dr. Katja Held

 

 

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Rüdiger Schaller, 06.12.2020

Autor des Buches: "In die Stille"