Heimkehr

Behutsam wird der Sarg in das dunkle Grab heruntergelassen. Zeit, um Abschied zu nehmen. Abschied von einem geliebten Menschen. Julia ist vor drei Tagen gestorben und wird heute beerdigt. Ich fröstele. Tränen steigen in meine Augen, sie vermischen sich auf den Wangen mit Regentropfen. Der Sarg setzt auf dem Grund des Grabes auf. Die schwarz gekleideten Sargträger legen die Seile, mit denen sie den Sarg hinabgelassen, auf den Boden. Dann ziehen sie ihre Hüte, verbeugen sich vor der Grube und treten nach einem kurzen Augenblick der Stille zurück. Sie geben damit den Blick auf eine andere Ruhestätte, die hinter ihnen liegt, frei. Dort ist in den schwarzen Marmor des Gedenksteins in goldenen Ziffern das Geburts- und Todesdatum gemeißelt: „15.06.1997 – 6.12.1997“. Dieses mir unbekannte Kind hatte nur wenige Monate das Licht der Welt gesehen. Sechs Monate, sechs Jahre, 60 Jahre…. Mir fällt ein, auch meine Lebenszeit ist begrenzt! Ein tiefer Atemzug ergreift mich. Ich werde eines Tages diese Welt verlassen müssen. Durch Unfall, Krankheit oder Alter.

Ein leichtes Zittern durchläuft meinen Körper, ich frage mich: „Bin ich wirklich der Herr meines Schicksals?“ Zu jeder Stunde, zu jeder Minute kann mir der Tod ohne Vorwarnung persönlich begegnen….

Soweit der Anstoß für mich auf eine Reise zu gehen, zurück zu meiner Quelle. Rückverbindung an das, was wirklich trägt. Die Erlebnisse und etliche Erfahrungen, die ich vor inzwischen so vielen Jahren gemacht hatte, hatte ich in meinem Buch „In die Stille“ niedergeschrieben. Quasi ein „Mutmacherbuch“ für Menschen in schweren Zeiten. Das Intro ist aus diesem Buch.

Vor kurzem aus einem ganz anderen Blickwinkel erlebt: Wir haben im Grunde in unserem Leben nichts wirklich im Griff – Treppensturz. Glatter Abriss der Quadrizepssehne am linken Knie. Was für ein Schreck. In Bruchteilen einer Sekunde lag ich da, keine Chance irgendwie zu reagieren. Ein Geschenk: Keine Verletzungen am Rücken oder am Kopf….. Zwar redet man gerne diese Worte, doch berühren sie uns; außer wir sind selbst direkt betroffen?

Die bei dem Tod und der Beerdigung von Julia begonnene Reise ging weiter; bis heute. Über inzwischen fast 20 Jahre. Entwicklung braucht Zeit! Auch wenn es heutzutage eine Fülle von Selbstoptimierungsbüchern und -seminaren gibt, in der Intention: In 7 Tagen ein neuer Mensch. Das funktioniert nicht wirklich, zerbricht auch manche Menschen. Was läuft da falsch in der westlichen Gesellschaft? Doch das ist ein anderes Thema. Wie auch die Umdeutung der Sünden in Tugenden. Zu den Sünden, die sieben Todsünden. Sie sind keine Erfindung des Christentum. schon archaiche Völker im alten Orient wussten, dass es besonders schwerwiegende Verfehlungen gab, mit denen sich der Mensch von seinem göttlichen Urprung trennt. Heute, an dieser Stelle, nur ein paar Worte zur Sünde des Geizes: "Geiz ist Geil!" Doch wer fragt nach den Arbeitsbedigungen, unter denen das 5€-Shirt bei KIK hergestellt wurde? An anderere Stelle mehr dazu.

Auf meiner Reise, da fühle ich mich oft so, als würde ich erst am Anfang stehen. Unendlich dankbar bin ich etlichen Menschen, die mich begleitet und gelehrt hatten und es auch heute noch tun; später mehr. Nur vorab so weit: Allein verrennt der sich der wissenschaftlich geschulte Verstand des Westens in Gedanken und dessen Konstruktionen. Dual geprägt – ein großer Graben wurde über die Jahrhunderte aufgerissen. Gott und die Welt wurden auseinandergerissen. Und Gott, wohin auch immer, abgeschoben. Der Verstand – so wichtig die Erkenntnisse sind, die gewonnen wurden und werden – kann das Nichtsagbare niemals fassen. Übersetzt werden kann dies als Annäherung nur mit der Sprache der Poesie; Worte der Liebe. Kontemplation ist hier angesagt, die Betrachtung eines geistigen, ungegenständlichen Objektes, um Erkenntnis zu gewinnen. Über Gott und die Welt. Als Weiterführung und Ergänzung des Bemühens um Erkenntnis durch den Verstand.

Ein Hinweis, und für die Jüngeren der Leser etwas zu Googlen: Hildegard Kneef und ihr Lied: „Ein Herz zu verschenken“. Damals dachte bei diesen Worten noch niemand an eine Herz-OP zur Organspende. Mehr an dieser Stelle nicht zur Poesie und zur Sprache der Mystik; da gibt es genug kluge Abhandlungen; kann man Googlen, zum Beispiel. Oder sich Lehrer suchen, was aus meiner Erfahrung effektiver ist und davor schützt, sich weitere Bausteine in die Gedankenwelt einzufügen. Dabei fehlt es an Erfahrungen des wirklichen Lebens. Und es fehlt an liebevoller Unterstützung. Dieser Weg wäre sehr einsam und verloren.

Der Heimweg - Religion: Die Rückbindung an einen wahrgenommenen göttlichen Urgrund. Im Gegensatz zum Dualismus. Ein Paradebeispiel hierzu der Sündenfall, beschrieben in der Bibel. Eva und Adam aßen die Frucht der Erkenntnis von Gut und Böse, von Gegensätzen. So nahmen sie ich als verschieden war. Und getrennt von Gott.

An dieser Stelle noch ein Einschub: „Gott hat verschiedene Religionen gemacht, um verschiedenen Menschen, Zeitaltern und Ländern gerecht zu werden. Man kann nur auf dem Pfad zu Gott gelangen, wenn man ihn mit unbedingter Hingabe folgt.“ So Ramakrishna.

Die wichtigste Aufgabe der Poesie und der Mystik auf dem Heimweg ist, dass die alten Weisheitslehren entstaubt und neu übersetzt werden. Mir hat zu Beginn meiner Reise dabei so sehr der Glaubenskurs in meiner Kirchengemeinde geholfen: Mein infantiles Gottesbild als – den 100%-Wunscherfüller oder situativ auch als ein strafender, vernichtender Gott – zu klären. Nichts davon ist er; unverfügbar. In seiner Liebe, in seiner Zeit.

Doch das Tor zur Heimkehr steht offen, ich muss entscheiden, dass ist umkehre. Rembrandt als Geburtshelfer. Zunächst verblüffend, nicht wahr? Es geht um ein Bild zu dem Gleichnis des verlorenen Sohns. Es drückt so sehr das Bedürfnis aus, endlich nach zu Hause zu kommen. Anzukommen. Zu Beginn des selbstbestimmten Lebnesn steht die gesunde und normale Bewegung, mit allen Talenten hinaus in das Leben zu gehen. Es zu erobern. Diese Bewegung führt bis zu dem Punkt der Erkenntnis, dass wir in dieser materiellen Welt, nichts, aber auch nichts wirklich halten können. Sinnentleert ist am Ende diese Suche, sie endet bei den Schweinen (im Gleichnis) und ohne Nahrung, Nahrung, die wir so sehr brauchen. Gerade die geistliche Nahrung, Wegzehrung durchs Leben. Nahrung auf dem Heimweg.

Ein weiterer Einschub an dieser Stelle: Eine Hinführung und Auslegung dieses Gleichnisses ist bei Heinri J. M. Nouven - "Nimm sein Bild in Dein Herz" – wunderschön ausgeführt.

Die Heimkehr, was für ein Freudenfest! Nicht im Büßergewand sondern im Festtagsgewand. Keine Vorwürfe, keine Anklage, nichts dergleichen. Wieder angekommen in der Heimat.

Die Tür zur Heimkehr steht immer offen, weit offen. Wir müssen uns entscheiden und gehen. Ins Unbekannte, Vertrauen fassen in die liebevolle Führung Gottes. Begleitet von achtsamen Lehrern; ich wurde reich beschenkt bislang auf meinem Weg. Zur rechten Zeit, da öffnete sich immer eine neue Tür;  nicht planbar. Prüfstein ist für mich, dass der Weg dem Leben zu gewendet bleibt. Er muss sich im Alltag bewähren, ähnlich wie der Weg von Jesus. Er wurde kein radikaler Bombenleger und auch kein Eremit. Er ging ins Leben, seinen Weg mit Gott. Hin zur Heimat.

 

Eine kurze Danksagung, unvollständig:

Meinen Eltern.
Meiner Kirchengemeinde in Niedernhausen – hier zu Beginn der Glaubenskurs; und über die Jahre so vieles mehr.
Das Jahrestraining "Die Art zu schreiben - Sprache und Bewußtsein" bei Sugata Wolf Schneider.
Meine Lieblingspfarrers und Freunde im Herzen; im stetigem und engen Austausch.
Dr. Günther Bayer – Geburtshelfer beim Offenlegen eines frühenTraumas.
Meiner Psychotherapeutin in Wiesbaden – Helferin beim Bearbeiten von  generationsübergreifenden Traumata, geboren aus zu tiefst verstörenden Kriegserlebnissen.
Meiner Hausarztpraxis im Zentrum von Wiesbaden, die Drees. Schwalb und Tecklenburg sowiedas gesamte Team. Ebenso Frau Dr. Timm-Lang; empathisch und dem Menschen zugewandt. Verbunden mit hoher Fachkompetenz.
So vielen Ärzten und deren Teams, 9 größere OP´s; zum Teil sehr herausfordernene OP´s. Alle gut verlaufen.
Harald, seit Jahren mein Laufsportberater; so viele hilfriche Tips und eine hochqualifizierte Beratung.
Constanze und Walter Wagner, die rasenden Reporter vom Laufreport.de; tolle Trainingspläne für den Bieler Nachlauf und noch vieles mehr an Ratschlägen und Unterstützung. Ein schöner Austausch schon über viele Jahre.
Dr. Oliver Ihle. Es war eine Freude, seine achtsame und professionelle Unterstützung bei meinem ersten Buchprojekt zu genießen.
Dr. Katja Held – seit Anfang des jetzigen Jahrtausends meine Lehrerin in so vielen unterschiedlichen Konstellationen; zuletzt bei der Einübung der 9 Tugenden. Meine Erfahrungsberichte werden in Kürze komplett freigeschaltet.

Nicht zu vergessen: Ohne die Unterstützung meiner Familie wäre ich nie so weit gekommen. Auch nicht ohne meine Herzensfreunde/-innen!

Und die Reise geht weiter, das gespannt mich und ich freue mich.

 

Gestern war ich klug und wollte die Welt verändern. Heute bin ich weise und möchte mich verändern.
Rumi

 

Rüdiger Schaller, 31.12.2020

Autor des Buches: "In die Stille"

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