Ostern

Die Grenzen der Wissenschaft - und eine Aufforderung, zu handeln

Ostern - das älteste Fest der christlichen Geschichte. Es ist das höchste in der liturgischen Rangordnung. Ostern ist aber in der Gesellschaft bei weitem nicht so populär wie Weihnachten. Das hat damit zu tun, dass jeder weiß, was eine Geburt ist, aber kaum ein Mensch kann sich eine Auferstehung vorstellen.

Selbst das Neue Testament bietet keine Hilfe.

Die Geburt wird anschaulich ausgemalt, doch die Evangelisten schweigen sich über die Auferstehung des toten Gekreuzigten aus. Die Auferstehung wird nicht beschrieben, sondern nur angekündigt oder als vollzogen vermeldet. Faktisch bleibt die Auferstehung unsichtbar. Die Auferstehung bleibt der unveräußerbare Wesenskern des Ostermysteriums. Und das ist gut so, denn alles was wir Menschen denken und sagen, dass bleibt auf der Ebene von Versuchen einer Erklärung. Es bleibt bei Annäherungen an eine schwer verständliche und noch viel schwerer kommunizierbare Wirklichkeit.

Das Ostermysterium - es hat nichts mit Mystizismus zu tun. Mystizismus verschleiert Klares. Es geht bei einem Mysterium um eine Art der Welt- und Selbstwahrnehmung, die noch vor der durch Begriffe geprägten Wahrnehmung kommt.

Auch die Wissenschaft in ihrem Streben nach grenzenloser Aufklärung stößt an Grenzen. Auch wenn zum Beispiel Physik aus der Gottesperspektive sich als Religionsersatz gut verkauft. Es wird die Weltenformel gefunden, die Bücher vermarkten sich sehr gut. So wird – obwohl Gott aus dem Universum heraus bewiesen werden soll – ein modernes religiöses Bedürfnis bedient. Die Idee der „letzten Theorie“ ist eher eine wissenschaftlich verkappte religiöse Idee. Seriöse Wissenschaft ist notwendig und gut, aber sie kann kein Allheilmittel sein, sie ist kein Religionsersatz.

Menschen scheinen heute zumindest noch eine Ahnung von den geistigen Mächten zu haben. Doch auf eine merkwürdige Art wollen sie dies nicht so recht wahr haben. Millionen lesen als Beispiel das tägliche Horoskop, sagen aber, dass sie nicht daran glauben, dass sei nur Spaß. Doch damit sollte kein Spaß getrieben werden. Auch wenn wir mit unseren elektronischen Maßinstrumenten diese Mächte nicht nachweisen können, sollten wir mit einer unsichtbaren Wirklichkeit rechnen.

Um was geht es denn nun im Ostermysterium, was ist die Botschaft an uns? Zu was werden wir herausgefordert?

Für eine Annäherung eine Zeitreise – vom Auszug Israels aus Ägypten hin zu Ostern und zu unserem Alltag. Zu Beginn der Reise zunächst Auszüge aus einer grundlegenden Bibelstelle. Sie steht in Exodus (2. Mose 8 ff):

„Und der HERR verstockte das Herz des Pharao, des Königs von Ägypten, dass er den Israeliten nachjagte. Aber die Israeliten waren mit erhobener Hand ausgezogen. Und die Ägypter jagten ihnen nach, alle Rosse und Wagen des Pharao und seine Reiter und das ganze Heer des Pharao, und holten sie ein, als sie am Meer bei Pi-Hahirot vor Baal-Zefon lagerten. Und als der Pharao nahe herankam, hoben die Israeliten ihre Augen auf, und siehe, die Ägypter zogen hinter ihnen her. Und sie fürchteten sich sehr und schrien zu dem HERRN und sprachen zu Mose: Waren nicht Gräber in Ägypten, dass du uns wegführen musstest, damit wir in der Wüste sterben? Warum hast du uns das angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? Haben wir's dir nicht schon in Ägypten gesagt: Lass uns in Ruhe, wir wollen den Ägyptern dienen? Es wäre besser für uns, den Ägyptern zu dienen, als in der Wüste zu sterben. Da sprach Mose zum Volk: Fürchtet euch nicht, steht fest und seht zu, was für ein Heil der HERR heute an euch tun wird. Denn wie ihr die Ägypter heute seht, werdet ihr sie niemals wiedersehen. Der HERR wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein.

Da erhob sich der Engel Gottes, der vor dem Heer Israels herzog, und stellte sich hinter sie. Und die Wolkensäule vor ihnen erhob sich und trat hinter sie und kam zwischen das Heer der Ägypter und das Heer Israels. Und dort war die Wolke finster und hier erleuchtete sie die Nacht, und so kamen die Heere die ganze Nacht einander nicht näher. Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich. Und die Israeliten gingen hinein mitten ins Meer auf dem Trockenen, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. Und die Ägypter folgten und zogen hinein ihnen nach, alle Rosse des Pharao, seine Wagen und Reiter, mitten ins Meer

Und das Wasser kam wieder und bedeckte Wagen und Reiter, das ganze Heer des Pharao, das ihnen nachgefolgt war ins Meer, sodass nicht einer von ihnen übrig blieb. Aber die Israeliten gingen trocken mitten durchs Meer, und das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. So errettete der HERR an jenem Tage Israel aus der Ägypter Hand.“

Der Auszug Israels aus Ägypten: Eine bildgewaltige Darstellung kam 1956 auf die Leinwand: „Die zehn Gebote“ – mit Charlton Heston als Moses und Yul Brynner als Ramses. Der Film gilt als einer der größten Monumentalfilme aller Zeiten. Es wirkten rund 14.000 Statisten und 15.000 Tiere mit. Als junger Heranwachsender hatte ich diesen Film im Fernsehen gesehen. Damals war ich tief beeindruckt von der Wucht der Bilder.

Die Geschichte der Errettung des Volkes Israel am Schilfmeer ist eine der Ur-Erzählungen der jüdischen Religion. Interessanterweise finden sich in der Bibel keine Angaben über die Zahl der flüchtenden Menschen. Es wird die Geschichte einer erfahrenen Wirklichkeit unter der Perspektive eines deutenden Musters erzählt. Das Handeln Gottes ist das zentrale Motiv der Geschichte - Gott befreit!

Trotz der Wächter gelingt den versklavten Menschen die Flucht. Wahrscheinlich, weil sie sich im Sumpfgebiet auskannten und die Verfolger – eine militärische HighTech-Armee - abgehängt hatten. Die innere Kraft schöpften sie bei diesem riskanten Fluchtplan durch die von Moses verkündetet Zusage Jahwes, er werde den Ausbruch gelingen lassen. Mit dieser Zusage verbindet sich das Bild eines Gottes, der es nicht hinnehmen will, dass Menschen geknechtet und ausgebeutet werden, so wie in den Arbeitslagern in Ägypten.

Gott befreit! Das feiern die jüdischen Gemeinden in aller Welt an Pessach. Am Vorabend des Pessach-Festes wird der Sederabend gefeiert. Er ist der Beginn von Feierlichkeiten über mehrere Tage. Es wird der Auszug des israelitischen Volkes aus der Gefangenschaft in Ägypten gefeiert. Am Sederabend fragt ein Kind: Was ist das Besondere dieses Abends und dieser Mahlzeit? Als Antwort wird ihm die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt: Wie Gott die Schreie des Volkes Israel hört und es aus der Unterdrückung befreit. Wie die Plagen Schrecken verbreiten. Wie das Volk sich in einem besonderen Mahl stärkt. Wie es mit Gott aufbricht und mitten durch das Meer in die Freiheit zieht. Die Geschichte darf nicht verloren gehen. Sie muss jedes Jahr wieder erzählt werden. Von einer Generation zur nächsten. Damit die Kraft der Befreiung lebendig bleibt: Wer gefangen ist oder beladen mit Schuld, sei frei. Wer hungrig ist, komme und esse. Wer in Not ist, trete ein und feiere mit. Das schwarze Tuch ist zerrissen! Der Durchgang durchs Meer ist frei!

Es ist keine Flucht aus Ägypten; es ist eine Befreiung! Gott hört das Wehklagen. Das ist das eine. Das andere ist, dass Gott eine Verpflichtung eingegangen ist: „Ich will euer Gott sein – und ihr sollt mein Volk sein.“ Unser Gott ist kein Gott, der teilnahmslos bleibt, sondern er bindet und verpflichtet sich. Und er lässt sich auf seine Verpflichtungen ansprechen. So wie die Menschen sich verpflichten, der Weisungen Gottes zu gedenken in ihrem Tun und Lassen auf dieser Erde. So, wie sie vor allem der Schwachen gedenken sollen, so sollen sie auch zu Gott rufen: „Gedenke, Gott, an deine Zusagen! Lass uns nicht allein im Unheil! Befreie uns!“ Gott führt das Volk heraus aus dem Sklavenhaus und hinein in das Land der Väter und Mütter. Was dabei stattfindet, ist keine „friedliche Revolution“.

Am Sederabend wird den Kindern nur mit großem Schaudern erzählt, dass Gott die Erstgeburt der Ägypter tötete. Symbolisch werden die Finger in einen Freudenbecher mit Wein getaucht und alle verschütten ein paar Tropfen. Die Freude bleibt eingeschränkt; sie ist getrübt, weil die Befreiung mit so viel Leid erkauft ist. So entsteht eine Gedenkkultur, die einen weiten Horizont eröffnet. Sie hält die unterschiedlichen Perspektiven der Befreiten und der Unterdrückenden gleichzeitig präsent. Sie führt auf neue Wege in die Zukunft: Weil ihr Fremde gewesen seid, könnt ihr mit Fremden anders umgehen; weil ihr Sklaven gewesen seid, könnt ihr jetzt die wie Menschen behandeln, die von euch abhängig sind.

Wer diese Befreiungsgeschichte als Kind erzählt bekommt und erwachsen weitergibt, entdeckt im Kopf und im Herzen, dass seine Befreiung mit Schrecken und Gewalt erkauft wurde. Das ist lange her, sagen manche. Doch die Pessach-Haggada widerspricht: sie stellt die Frage im Präsenz und antwortet auch so, als wäre es unsere gegenwärtige Erfahrung.

Wir verdanken unsere Freiheit Christus. Er hat die Gewalt auf sich genommen, damit wir uns nicht verhärten müssen, nicht länger der Gewalt ausgeliefert sind und nicht mehr auf die Gewalt vertrauen müssen. Sondern frei werden für ein versöhntes Leben.

Doch auch heute gellen Gott die Schreie der Elenden im Ohr: die Hilferufe derjenigen, die in den Wellen des Mittelmeers um ihr Überleben kämpfen; die Schreie der Kinder, die sich in Idlib oder im Jemen vor den nächsten Bombenangriffen fürchten; die Wut derjenigen, die schon heute auf pazifischen Inseln wegen des Klimawandels umgesiedelt werden müssen. Die Aufzählung lässt sich beliebig erweitern – die Lager in Bosnien, Moria und auf Samos, in Libyen. Den Außenmauern Europas, die der Abschreckung der Flüchtenden dienen. Hohe Mauern werden errichtet; Jericho lässt grüßen.

Gott liebt die Elenden und sorgt sich um sie. Gott will sie befreien, aber nicht wie ein Puppenspieler oder ein deus ex machina. Gott hat sich an unsere Freiheit gebunden und braucht Mose, braucht uns als Flucht-Helfer. Moses war bei seiner Berufung vor dem brennenden Dornbusch zunächst störrisch. „Wer bin ich, dass ich mir das zutraue?“ Darauf antwortet Gott: „Ich will mit dir sein!“ Eine unerwartete Antwort. Eher hätte man erwartet: Du bist der Sohn von Herrn x und Frau y; du bist deinem Volk verpflichtet; du hast die Kompetenz. Aber Gottes Antwort verlässt die Ordnung der Zugehörigkeit und stiftet eine neue Verbindung. Sie wahrt die Eigenständigkeit und das Geheimnis der Person Mose; sie macht ihn nicht zu einem Rädchen in Gottes großem Plan. Gott bahnt Mose einen Weg, sich der Zumutung zu stellen.

Die Frage: „Wer bin ich, dass ich mir das zutraue?“ rückt in ein neues Licht. Gottes Aufforderung: „Geh hin!“ wandelt sich in die Verheißung einer vertikalen und einer horizontalen Kooperation. „Du, Mose, du Mensch, kannst mitwirken in der Befreiungsgeschichte; du kannst Menschen auf der Flucht helfen, weil Aaron dich stützt und ich mit euch gehe!“

Auf uns heute bezogen: Sind wir eher im Herzen verhärtet, wie die Ägypter damals, deren Wohlstand auf der Basis von Kriegen und Sklavenarbeit erwuchs? Was nimmt uns derzeit gefangen? Was verhärtet uns? Was hindert uns, weiter zu gehen in Richtung Schilfmeer? Das schwarze Tuch ist doch zerrissen, das Meer wird sich teilen! Gott wird uns sicher auf die andere Seite führen. Aber wir vertrauen eher auf die Macht der Streitwagen als auf Gottes Wolken- und Feuersäule.

2013 verbrannten in Bangladesh in einer Textilfabrik 112 Arbeiterinnen; ein großes Erschrecken ging durch unser Land. Doch nur ganz wenige haben dann etwas getan. Solange wir Kleidung so günstig wie möglich einkaufen, wird die Sklaverei weiter gehen. Hier nur ein weiterer Fakt: Kinder schuften in Kobaldminen für unsere E-Mobilität. Auf der Ausbeutung so vieler Menschen, ja ganzer Kontinente, beruht unser Wohlstand. Ähnlich lebten die Ägypter zur damaligen Zeit.

Werde ich beim nächsten Einkauf daran denken? Werde ich Gottes Feuer- und Wolkensäule folgen, die mich befreit und in eine neue Welt führt, in der Menschen unter guten Arbeitsbedingungen von ihrem Lohn leben können? Der Entwicklungshilfeminister hat einen ersten Anfang mit dem Lieferkettengesetz gemacht. Ein Anfang? Im Rahmen der Fortschreibung des Finanzplanes wird eine Absenkung des BMZ-Haushaltes vorangetrieben. Das gesparte Geld soll in den Rüstungsetat, in die Streitwagen fließen, die im Schilfmeer untergegangen sind.

Nochmals: Gott hat sich an unsere Freiheit gebunden und braucht uns als Flucht-Helfer. Das schwarze Tuch ist zerrissen. Das Meer hat sich geteilt. Christus hat den Tod überwunden. Gott befreit! Gott geht uns voraus: „am Tage in einer Wolkensäule, um uns den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um uns zu leuchten.“ Wohin wir unsere Füße setzen, Gott ist zuvor schon da gewesen!

Gott erscheint als eine gehende Säule, ein bleibendes Da-Sein. Gott ist nicht der höchste Garant der bestehenden Verhältnisse, sondern der Andere. Damit es weiter gehen kann, darf es nicht immer so weiter gehen. Wer Gottes Gegenwart erfahren will, muss sich auf den Weg machen und ihm folgen. Gott selbst geht uns voran. Mit der Wolken- und Feuersäule stehen die „guten Mächte“, von denen Dietrich Bonhoeffer schreibt, dem ganzen Volk sichtbar vor Augen: „Dein Licht scheint in der Nacht.“ Dieses Licht scheint auch für uns. Denn wenn wir als Christen glauben, dass der Gott Abrahams, Issaks und Jakobs der Vater von Jesus Christus ist, dann vertrauen wir auch auf den Gott, der Israel aus Ägypten geführt habt.

Bei der Aufrichtung seiner guten Herrschaft auf Erden für alle Menschen geht Gott den Umweg über seinen Sohn und wird Mensch. Gott richtet nicht einfach seine Herrschaft auf Erden auf. Denn so, wie wir Menschen sind, die wir uns von Gott abwenden und gegen seinen Willen leben, hätten wir zum Reich Gottes überhaupt keinen Zugang gehabt. Wir hätten draußen bleiben müssen - oder wären von Gottes Siegeszug in der Welt überrollt, vielleicht sogar vernichtet worden. Deshalb geht Gott den Umweg über seinen Sohn: In Jesus wird Gott Mensch. Jesus stirbt am Kreuz für unsere Schuld. Und durch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten überwindet Gott den Tod als letzten Feind, der uns Menschen gefangen hält. Durch diese Heilstat in Jesus befreit Gott uns Menschen aus der Sklaverei der Sünde und des Todes - so, wie er Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat.

In der Geschichte Israels zeigte es sich immer wieder - und bis heute ist dies eine gültige Erfahrung: Gottes Wege zu gehen ist nicht immer bequem, es ist mitunter recht mühselig, doch in den entscheidenden Situationen steht Gott zu denen, die ihm vertrauen.  

Zum Schluss noch eine Übertragung, zu den Plagen der Ägypter, in die heutige Zeit. Eine nicht abschließende Aufführung: Hitze- und Dürreperioden, Absenkung des Grundwassers, Überschwemmungen, Verringerung der Biomasse, Artensterben, Schweinegrippe, Corona und weitere Mutationen….. Und vor den Mauern Europas zutiefst notleidende, verzweifelte Menschen, die in das gelobte Land wollen.

Gott ist nicht der höchste Garant der bestehenden Verhältnisse, sondern der Andere. Damit es weiter gehen kann, darf es nicht immer so weiter gehen. Gottes Wege zu gehen ist nicht immer bequem, es ist mitunter recht mühselig, doch in den entscheidenden Situationen steht Gott zu denen, die ihm vertrauen.  

 

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Rüdiger Schaller, 04.04.2021

Autor des Buches: "In die Stille"

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