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Kategorie: Blog
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Von nährenden und von vergifteten Wurzeln

Leichtes Lauftraining in meinen geliebten Wäldern. Bewegung und Atem verbinden sich, tiefer Frieden breitet sich aus. Die Luft ist rein und klar nach dem Regenschauer von eben. Sonnenstrahlen brechen durch die Wolkendecke, erstes Frühlingsgrün leuchtet hell. Wie eine Kathedrale wirkt der von Buchen gesäumte Weg. Ein für mich heiliger Ort.

Unvermittelt ein starker Luftzug über meinem Kopf. Ein Greifvogel hat sein Revier markiert, Schutz für seinen Nachwuchs. Nun sitzt er auf einem Ast und beobachtet. Dann breitet er seine Flügel aus, lässt den Halt los und gleitet durch die Luft, die ihn trägt. Ich bleibe in Bewegung, meine Gedanken schweifen ab: Loslassen, berührt durch das Ostergeschehen: Du, Mensch, bist geliebt. Das ist deine Würde!

Bislang hatte ich mich krampfhaft an meiner Karriereleiter festgehalten. Und Jesus stieg von oben herab an mir vorbei. Er hielt nicht an, um Gott meiner Wünsche zu werden. Gleich einem Gottesschatten streifte er mich und stieg tiefer als der Grund, in dem meine Karriere wurzelt. Im eigenen Tod hat er den Ton des Lebens gesucht - und hat ihn gefunden. Nun steht er vor mir und sieht bis in den verborgensten Winkel meines Herzens. Nach all den Jahren des Ringens mit vielen Ängsten steht er vor mir: Ich kann loslassen und die Flügel ausbreiten. Mich ins Leben tragen lassen. Die vergifteten Wurzeln des Nachkriegskindes, die mich prägten und festhielten, verlieren ihre Macht. Nach dem beweinenden Trauern auch um mich in meiner Opferrolle, die ich nun loslassen kann, ist es an der Zeit, einen begreifenden Blick auf die Wurzeln unseres Landes zu werfen. 

Geboren wurde ich in ein physisch und psychisch völlig verwüstetes Land. Mit Menschen, die dem „Führer“ im Vernichtungskrieg mit übergroßer Mehrheit loyal bis zum Ende hin gefolgt waren. Lebenslügen durchzogen dieses Land. Strafvereitelung durch wiedereingesetzte ehemalige NS-Richter, die über ehemalige NS-Richter urteilten. Ex-Nazis fanden rasch nach dem Krieg wieder in Ämter und erlangen bürgerlichen Wohlstand. Nur ein weiteres Beispiel für den Geist dieser Zeit: Der für die Massaker in Tulle und Oradour-sur-Glane verantwortliche General Heinz Lammerding, der 1951 von einem französischen Gericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde, wurde nie von Deutschland ausgeliefert. Er konnte unbehelligt eine Karriere als Bauunternehmer machen. Es gab keine Stunde „Null“; die Schutzmauern der NS-Menschen vor Strafverfolgung funktionierten und funktionieren perfekt. 

Das schleichende Gift des Antisemitismus wie auch das Gedankengut der vormaligen so herrisch-stolzen Volksgemeinschaft breitet sich auch heute noch aus. Aus diesem begreifenden Blick heraus gilt es zu handeln. Da die Brandmauern eher nur aus Papier sind, ist es die Pflicht auch des Christenmenschen, tatkräftig an Schutzräumen mitzubauen, in denen Leben in Gemeinschaft gut gelingen kann.

 

Rüdiger Schaller 30.03.2024 / 19.04.2024 (Änderungen Titel und Textkürzungen - in Zusammenarbeit mit dem Redaktionsteam der Christuskirche Niedernhausen)

Autor des Buches „In die Stille“         Neu: Jetzt auch als eBook 

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