Syltlauf – mal ganz anders

 

 

Syltlauf - mal ganz anders

Der Startschuss: Kaum ist das Wummern des Kanonenschlages verklungen, geht es los. In eine Welt voller neuer Erfahrungen, was überhaupt nicht zu erahnen war. Neue Erfahrungen für einen „alten Hasen“? Immerhin schon sechsmal das Ziel erreicht. Was kann da noch neu sein?

Schon wenige Meter nach dem Start ertönen glockenhelle Kinderstimmen – die jüngsten der freiwilligen Feuerwehr – feuern inbrünstig an: „Sie schaffen das. Wir glauben an Sie. Sie schaffen das!“. Kurz darauf an der nächsten Absperrung etwas ältere Jungen der Feuerwehr. Einer links und einer rechts, so rahmten sie mich ein und liefen ein Stück neben mir. Dabei feuerten sie mich an. Was für eine beflügelnde Motivation! Das gab schon zu Beginn Rückenwind und jedem versprach ich, dass ich ankommen werde. In meiner Zeit. Aber das ich ankomme. Hinter mir das sonore und beruhigende Brummen des „Besenwagens“ vom Roten Kreuz; mehr dazu später. Ab dem Start war ich an letzter Position. Warum?

Kurz zur Vorgeschichte: Treppensturz mit Abriss der Quadrizepssehne; komplett am Knie abgerissen. Nach OP und Heilung - 6 Monate bis zum ersten Kilometer -, Reha und div. Erkrankungen leichtes Lauftraining ab Ende Dezember. Gezieltes Training der Grundlagenausdauer ab Januar. In der Summe knapp 300 KM. Das ist gemessen an dem Ziel wenig, sehr wenig. Und echtes Tempotraining: fast komplette Fehlanzeige.

Auf Sylt angekommen steigen Zweifel auf, gepaart mit Unsicherheit: reicht der Trainingsstand? 34,5 Kilometer sind lang, das Klima für Menschen aus dem Rhein-Main-Gebiet ist rau und herausfordernd. Obwohl die Seeluft mir als Mensch mit Asthma guttut. Doch das mit dem Abbau des Ziels nach viereinhalb Stunden, das ist hart für den aktuellen Trainingsstand. Zu hart? Deshalb zumindest an den Start gehen und über die Startlinie laufen; vielleicht bis Westerland. Dann Aussteigen, so ein Szenario.

Seit der Ankunft auf Sylt fühlt es sich für mich so an, als ob zwei Seelen in meiner Brust schlagen. Ein Anteil in mir hat mich mit traumwandlerischer Sicherheit durch alle Bahnstreiks und Streckensperrungen hierhergeführt. Keine Zweifel, eher ein: Das muss jetzt sein und es ist gut so! Der andere Anteil eher verzagt und fragend. Tendenz gar nicht antreten.

Da ich einige Tage vor dem Lauf angereist war, konnte die Lösung des inneren Ringens bei langen Spaziergängen auf der Insel reifen: Antreten und über die Startlinie laufen, das ist es! Als Symbol, den ganzen alten Müll der letzten Jahre hinter mir lassen und neues Leben beginnen. Damit war ich dann zufrieden. Bis zum Samstag vor dem Lauf. Da fand traditionell die Nudelparty mit der Startnummernausgabe statt. Kurze Gespräche mit den Organisatoren. Wir hatten unter anderem über die ehrenamtlichen Tätigkeiten des Vereins, nicht nur beim Syltlauf, gesprochen. Mehr als aller Ehren wert, was der TSV Tinnum 66 mit seinen rund 900 Mitgliedern so alles „auf die Beine stellt“. Man kann die Unterstützung durch Menschen im Ehrenamt nicht hoch genug werten. Wer macht denn zum Beispiel den ganzen Müll nach dem Lauf weg, den wir Läufer hinterlassen? Wie beiläufig kamen wir in unserem Gespräch darauf, dass nach spätestens viereinhalb Stunden die Zeitnahme abgebaut werden muss. Doch: Jeder der ins Ziel kommt, der erhält seine Finisher-Medaille. Egal, wie lange er braucht. Ehrensache. So die Kernaussage. Das hat mich entspannt. Die Nacht hatte ich tief und ruhig geschlafen.

Voller Vorfreude ging ich an den Start. Mir war klar: Ankommen werde ich. Das bedingte ein konsequentes auf das Ankommen ausgerichtete Tempo direkt von Anfang an. Logisch, so war ich nach ein paar Schritten eben am Ende des Feldes. Und das einmal angeschlagene Tempo hatte ich beibehalten, auch wenn es gegen Ende doch etwas langsamer wurde. Der Gedanke an ein Aufgeben kann nie auf. Der Kopf war klar und frei. So konnte ich den Lauf und die Landschaft genießen. Doch es kam noch etwas anderes, eben Neues hinzu. Egal an welche Verpflegungsstelle ich kam, gab es große Anfeuerung und motivierende Worte. Immer gepaart mit der Ansage, ich könne stolz auf mich sein. Auch Spaziergänger und Radfahrer feuerten mich in diesem Sinne an. Gegen Ende meines Laufes kamen mir neben der Laufstrecke Läuferbusse entgegen. Anfeuernde Gesten der Mitläufer, die schon im Ziel waren. Ebenso Unterstützung durch die hupenden Autos und die Zurufe aus offenen Fenstern. All das pushte mich und bestärkte mich darin, die Konzentration zu halten. Es galt die Bewegung und die Zeit nicht aus dem Auge zu verlieren. Eben damit das Ziel erreicht wird. Darauf lag der Fokus.

Sinnbildlich für die ganze Unterstützung und die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer/innen: Verpflegungsstation in Rantum. Noch geschätzt zweihundert Meter. Der „Besenwagen“ und ich werden gesehen. Jubel bricht aus, Helferinnen kommen mir entgegengelaufen und begleiten mich bis zur Station. Welch eine aufrichtige und motivierende Ansprache dort von Allen! Und diese Menschen stehen schon seit Stunden da und erst wenn der Letzte vorbei ist, ist auch ihr Dienst vorbei. Ich glaube, sie haben sich mehr für mich gefreut, als ich das in dem Moment konnte. Mir hatte diese Herzlichkeit die Sprache verschlagen. Doch versprochen hatte ich auch ihnen, dass ich ins Ziel komme! Sobald ich nur an diese Begebenheit zurückdenke, kommen mir Tränen in die Augen. So eine Anteilnahme und eine tragende Unterstützung, unfassbar.

Nun, nicht nur das Schreiben kommt jetzt gleich zum Ende, nein auch mein Lauf neigte sich dem Ende zu. 500 Meter noch bis ins Ziel, da höre ich links hinter mir eine Stimme, die meinen Namen sagte. Ich drehte mich halb um und sah Michaela, eine der beiden so geduldigen Sanitäterinnen, die aus dem „Besenwagen“ ausgestiegen war und mich fragte, ob sie mit mir zusammen ins Ziel laufen könne. Klar doch! Nochmals Kräfte mobilisiert und aus dem Traben ins schnellere Traben gekommen; mehr war nicht drinnen. Eingehakt, Arm in Arm liefen wir ins Ziel – dort wartete wieder eine der so geduldigen Helferinnen und hängte mir die Finisher-Medaille um. Emotional kaum zu beschreiben.

Nach 5:33:20 (selbst gestoppt) tatsächlich das Ziel erreicht. Und so großartige Unterstützung erfahren. Noch völlig in Gedanken versunken, da kam Ina, die Fahrerin des „Besenwagens“, zu mir und sagte: „Ich bin stolz auf Sie, Sie können auch stolz auf sich sein. Was für eine Leistung! Wir dachten zunächst, spätestens in Westerland (ungefähr die Hälfte der Strecke) würden Sie aussteigen. Sie können wirklich stolz auf sich sein.“ Nun, langsam glaube ich mir das, was so viele Menschen mir gesagt hatten: Ja, ich bin tatsächlich stolz!

Tja, so am Ende des Feldes zu Laufen hat schon etwas. Zum Beispiel in Westerland auf der Kurpromenade: Ungeteilte Aufmerksamkeit und Anfeuerungsstürme. Und zu guter Letzt, ich hatte den letzten Läuferbus verpasst, stieg ich in einen Linienbus ein. Tosender Applaus der Fahrgäste. Ich war sprachlos.

Dankbar bin ich, dass mir dieser Erfahrungsraum eröffnet wurde, dankbar allen Menschen, die das ermöglich hatten. Noch eine sehr wichtige und tiefgreifende Erfahrung hatte ich gemacht: Als „Letzter“ bin ich ein genauso wertvolles Mitglied des Ganzen wie jeder andere; ohne Abstriche. Keiner hat mich aufgegeben, alle haben mich unterstützt und ich höre heute noch das beruhigende Brummen des „Besenwagens“ hinter mit: Ich war nie allein und gut umsorgt.

Nächstes Jahr: Wieder Einlauf im Rahmen der Zeitmessung; versprochen!

 

Rüdiger Schaller, 20.03.2024

p.s.: Ein Warnhinweis zu Risiken und Nebenwirkungen: Heute am dritten Tag nach dem Lauf ist der Überschuss an Endorphinen immer noch erheblich. Und der Stolz will nicht kleiner werden….

Autor des Buches: "In die Stille".

Weitere Blogeinträge:  Blog (perfectsounds.de)

 

p.s.: Mit der Fahrerin des Besenwagens, mit Ina, bin ich inzwischen "per Du"; schön! Ina hatte mir auch das u.a. Bild organisiert.

 Zieleinlauf mit Michaela!