Eine Wanderung zwischen den Welten

 

 

Notfall!  Eine Wanderung zwischen den Welten

Blut! Ist das Blut? Eine der aufmerksamen und fürsorglichen Schwestern der Pflegestation stoppt mich auf dem Weg zum Wasserspender. Sofort klemmt sie den Beutel der Magensonde ab und führt einen Schnelltest durch. Blut nach einer Darmoperation im Magen?

Zur Vorgeschichte: Montagabend Schmerzen im rechten Unterbauch, Dienstag vom Hausarzt Notfallüberweisung. Vor ein paar Tagen noch den Syltlauf gemeistert, nun liege ich nach den Untersuchungen auf einem Krankenhausbett. Im St. Josefs-Hospital in Wiesbaden.

Infusionen sind schon gelegt und laufen. Blinddarm – muss sofort raus. Für den Kopf quälende Stunden beginnen. Ein großer Notfall vor mir, der OP ist noch belegt. Klar, Triage, dass muss sein. Und die Dauer von OP´s, gerade von größeren OP´s, ist nicht sicher berechenbar. Ich hatte selbst mal eine OP der Schilddrüse, die dauerte anstelle der geplanten 2,5 Stunden glatte 5,5 Stunden. Doch der Kopf kreist, Gedankenketten verlieren sich im Nichts. Zeit zerrinnt, nicht mehr fassbar. Doch immer wieder kommt einer der Pflegeschwestern vorbei, informiert mich: Ich bin noch auf der Liste der OP´s. Das beruhigt, gibt Halt in der Zeit, auch wenn die Gedanken wieder anfangen zu rasen. Es kostet mentale Kraft, das Warten. Dann endlich die OP, es ist schon sehr spät geworden. Voller Vertrauen begebe ich mich in die Hände des Anästhesisten und des Menschen, der mich operiert. Kurze Bitte des Anästhesisten: „Denken Sie an was Schönes beim Einschlafen.“ „Klar, Zieleinlauf Sylt 2025“ sage ich noch – und weg war ich. Doch, was sind das für komische Bodenkacheln? Das sind nicht die Duschen auf Sylt, nein. Erst langsam wird mir klar, dass ich Aufwachraum bin.

Das Warten, auch das Warten auf den zweiten Eingriff, und die Nächte haben mental Kraft gekostet. Die Nächte zum Teil vom Status „Lustig“ bis zum Status „Panik“. Dazwischen viel Unruhe, Wechsel der Infusionen, nicht exakt auf den Zeitpunkt planbar. Auch legen von neuen Zugängen. Wegdämmern, wieder aufwachen. Wachliegen in unbequemer Position. Das Standardrepertoire eben. „Lustig“ die Begebenheit mit den älteren Zeitgenossen in meinem 3er-Zimmer. Beide konnten ihre Handy´s nicht bedienen, so dass sie laut in der Nacht losgingen. Mitten in der Einschlafphase. Einem durfte ich zeigen, wie es ausgeschaltet wird.  Der andere Mitbewohner – schwerhörig – sagte mit dann stolz, er habe es nun sehr leise gestellt. Trockener Kommentar meines Jüngsten: „Das alles klingt lustig, ist doch aber schön, dass Du Dich auch mal wieder jung fühlen darfst neben denen!“. Die Begebenheit mit der „Panik“, das war zutiefst erschreckend: Hinweggedämmert in eine Vorstufe des Schlafs, plötzlich ein Anfall von tiefer Euphorie, so tief und erschreckend und vereinnahmend – wenn ich nicht noch die Kraft gehabt hätte, auszusteigen, ich wäre verbrannt. Verbrannt wie es Moses wäre, wenn er dem brennenden Dornenbusch nähergekommen wäre. Durchatmen, Schweißperlen abwischen. Wieder Wegnicken, abgleiten in einen hyperrealen Alptraum, auch wieder raus. Ich hatte inzwischen vor dem Einschlafen Angst bekommen. Alles wohl mögliche Nebenwirkungen der Narkosen.

Doch ich fühlte mich die ganze Zeit behütet, Tag wie Nacht. Im Grunde immer umsorgt von dem Team der Schwestern, das neben den klaren und hilfreichen Ansagen der Ärzte, Halt und Orientierung gab. Es war immer ein Netz vorhanden, dass mich aufgefangen hätte. Sobald Hilfe benötigt wurde, waren sie da. Immer freundlich und dem Menschen zugewendet, auch beim zum Teil großen Stress. So habe ich die Damen auf der Pflegestation 51 – in den wechselnden Teams und im Einzelnen - erlebt. Und auch in für mich krassen Situationen agieren sie souverän: Ein Mann, Pflegestufe (Rollstuhl, Windeln etc.) ist fünf Tage ohne seine Zigaretten. Da wird dann in der Nacht eine enorme Kraft entwickelt – alleine aufstehen, sich anziehen, auf den Gang gehen und fordern, dass er nach draußen zum Rauchen gebracht wird. Diese Kraft, diesen Willen auf die eigene Gesundung lenken, das wäre es! So bleibt es bei der Tendenz zur Selbstzerstörung. Doch auch hier klare Ansagen und Hilfe vom Pflegeteam für den Menschen.

Bei den etlichen Runden auf der Station, die ich nach den Eingriffen zur Aktivierung machte, ist mir ein Typus von Menschen aufgefallen, der sich tendenziell einfach nur bedienen lassen will, kaum mit etwas zufrieden ist und wenig Geduld hat. Geduld: Ja geduldig und konsequent fordern die Schwestern auch bei ihnen immer wieder die Eigeninitiative ein, soweit sie möglich ist. Das nervt dann wieder einige der Patienten, denn der Kern des Problems ist damit wohl getroffen. Für mich – nicht despektierlich gemeint – nenne ich diesen Typus Mensch den „Hallo-Ich-Winker“. Ich kenne selbst über meinen eigenen Lebensweg wie schwer es ist, aus den alten Prägungen auszusteigen, die wirkmächtig sind. Das bedarf zuvorderst einer Entscheidung: Ich sorge für mich. Daraus abgeleitet folgt dann eine Aktvierung des Willens. Des Willens als eine Energie, die auf das Leben zielt. Leben ist Bewegung.

Ja, das Leben ist manchmal schwer. So schwer, dass man nur noch klagen will. Mir ging es nach ein paar Tagen so. Völlig ausgebrannt von dem kompletten psychischen Stress vor allem der Nächte, wollte und konnte ich noch nicht mal mehr etwas von den mir nahestehenden lieben Menschen hören und sehen. Alles war mir zu viel. Völliger Rückzug. Stille Meditation zur Hilfe: Fehlanzeige; dauernd quasselt der Verstand dazwischen. Andere Formen der Meditation: Auch Fehlanzeige – der mentale Akku war leer. So ging ich in die Kapelle des Krankenhauses. Vielleicht über ein Gebet Ruhe und Orientierung finden? Doch auch Worte fand ich nicht. In einem der wenigen stillen Momente blitzt in meiner Erinnerung der Psalm 105 auf, nur dieses Fragment: „Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. Eine Zeitreise beginnt, ein Zoom in den Herbst 2004: Ich komme von der Arbeit und auf der Treppe sitzen meine beiden Ältesten. Sie halten mir Laufschuhe entgegen und drängen: „Auf Papa gehe laufen. Es ist doch so wichtig für Deine Gesundheit“. Dass dieser Tag der Beginn einer dauerhaften Phase des gesundheitsorientierten Ausdauerlaufen wurde, das war mir damals noch nicht klar. Nur aus den Augenwinkeln, in dem Moment an dem ich loslief, sah ich in den Augen meiner Kinder ein Funkeln und Strahlen. Die Freude und die ganze Liebe, die mir galt. Wie wahr: Leben ist Bewegung.

Neben mir eine schnelle Bewegung, ich tauche aus meinen Gedanken auf. Die Schwester sagt mir freudig und erleichtert: „KEIN Blut, so das Testergebnis“. Wer freut sich mehr? Also weiter spazieren bis zum Abendessen, nun schon ohne Drainage. Auch das macht etwas freier in der Bewegung.

Visite am nächsten Morgen. Der Arzt mit seinem Team kommt zu mir und sagt sinngemäß: Aufgrund ihrer Konstitution als Läufer werden Sie morgen, wenn die Blutwerte stimmen, entlassen. Dabei lächelt er und das ganze Team hat so ein merkwürdiges Funkeln und Strahlen in den Augen. Ich glaube, das schon mal gesehen zu haben; wann auch immer. Toll, wie vom Chef über alle Beteiligten bei der Visite eine große Freude über meinen Fortschritt in der Heilung wahrzunehmen ist. Warme und herzliche Anteilnahme von Mensch zu Mensch. Wow, mir kommen die Tränen. Da sind sie aber schon beim nächsten Patienten. Kleine Ablenkung für mich durch Kopfrechnen: Das sind dann ja nur 8 Tage anstelle von 14 Tagen Standardverweildauer.

Die letzte Nacht bricht an; ich möchte sie nicht missen. Da habe ich einiges gelernt über Pflege. Jeder der über Pflege spricht, müsste wohl mal auf dieser Seite dabei sein. Wer weiß, wie dann gesprochen würde. Nun, ein Patient wird von der Intensivstation in das Zimmer, in dem ich mein Bett habe, gebracht. Nach einer Weile: Notfallklingel – alles an Verbänden ist aufgebrochen. Zwei Schwestern eilen herbei, schauen sich kurz in die Augen und fangen an. Säubern und verbinden. Nur wenige Worte sind nötigt, ab und an aber die ganze Körperkraft. Nach einer halben Stunde ist die Arbeit getan. Doch genau in diesem Moment bricht wieder alles auf. Dasselbe Prozedere noch einmal. Nachdem der Patient nun versorg ist, gehen sie weiter ihrem Dienst nach. Das alles ist keine Fallpauschale, nein. Das ist mehr und unbezahlbar: Dieser selbstlose Einsatz für den Schwächsten, das ist ein Dienst, geboren aus der Liebe des Einen. In allem, was die Schwestern hier leisten: Ich bin zutiefst beeindruckt und berührt. Zuhause wurde ich gefragt, ob ich denn keine Todesangst gehabt hätte, es hätte ja Lebensgefahr bestanden. Nein, ich hatte zu keinem Zeitpunkt Angst. Hier war ich geborgen und getragen. Es wurde alles Menschenmögliche für mich getan.

Leider, noch ein kleiner Rückblick. Nachdem der Patient in meinem Zimmer versorgt war, holte ich mir im Flur Wasser. Auf dem Weg zurück zum Zimmer sah ich eine der Schwestern aus einem anderen Zimmer kommen. Tränen flirrten um ihre Augen – einem „Hallo-Ich-Winker“ hatte es zu lange dauert, bis sein Essenslöffel, der vom Tisch gefallen war, aufgehoben wurde. Die Schwester brauchte einen Moment, dann ging sie weiter, zum nächsten Patienten. Unermüdlich.

 

Rüdiger Schaller, 20.04.2024 

p.s.: Mehr Ausführungen zum Psalm 105

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