Die Seele

Die Seele ist das was Gott an Lebendigem in mich gepflanzt hat, sein Atem in mir, sein göttlicher Funke. Die Seele, das ist das, was ich wirklich bin, was mich ausmacht.

Ein Zugangsweg über Psalmen. Doch Psalmen aus der Bibel singen? Warum macht man das, auch in Deutschland, in einer so aufgeklärten Zeit wie der unsrigen? Das singen der alten Melodien mit noch viel älteren Worten?

Eine Annäherung: Das Buch der Psalmen mit seinen 150 Gebeten, Liedern und Gedichten, ist ein Buch aus dem Stoff des Lebens; hochaktuell auch und gerade heute!

Da spricht das Volk Israel, da sprechen Einzelne aus, was sie im Innersten bewegt. Psalmen enthalten alle Gefühle, die wir selbst dann und wann erleben. Da finden wir Worte und Bilder für Lob und Klage, sogar für Anklage. Für Vertrauen und Angst, für Hoffnung und Verzweiflung. Für Freude und für Wut. Angst, Erschrecken, Leiden, Betrübtheit, Unruhe. All diese Erfahrungen sind in den Psalmen abgebildet.

Beim Lesen der Psalmen bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Erfahrungen aus meinem eigenen Leben darin erzählt werden. Was ich besonders beeindruckend finde ist, dass der Gott der Psalmen nicht einfach flach als der „liebe Gott“ dargestellt wird. Nein, es ist nicht ein Gott, der uns vor schwierigen Erfahrungen bewahrt.

Die Psalmen beschreiben nicht die heile Welt, nach der wir uns sehnen. In ihnen kommt die ganze Widersprüchlichkeit der Welt und unseres Lebens zur Sprache. Spannungen werden nicht einfach aufgelöst. Die Beter der Psalmen erfahren Gott als den, der ihre Not zulässt und ihrem Leiden ein Stück weit tatenlos zusieht. Ähnlich dem Leiden Hiobs. Hier denke ich an meinen Kampf nach einem fatalen Treppensturz und der anschließenden Leidenszeit. Opitate nach der OP, monatelang Schmerzmittel und Entzündungshemmer. Kaum Fortschritte in der Beweglichkeit. Oft war mir der Blick auf Gott, auf seinen Plan, verstellt. Hiob, und die oftmals Unerklärbarkeit von Leiden, das war mein Motto. An anderer Stelle mehr dazu.

In den Psalmen wird Gott angeschrien, es wird an ihn appelliert. Oft wird er von den Psalmbetern auch angeklagt.

Aber: Sie halten trotz alledem an Gott fest.

Die Psalmen helfen Menschen, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Und ganz oft kommen sie so vom anfänglichen Klagen zum Loben.

Ein Psalm, der gleich mit dem Loben beginnt, ist der Psalm 103:

„Lobe den Herrn meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen!

Lobe den Herrn meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“

Mein Herz wird mir weit, wenn ich diese Worte ausspreche und bete und versuche zu erfassen, was mit Seele gemeint ist.

Seele: Das, was Gott an Lebendigem in mich gepflanzt hat, sein Atem in mir, sein göttlicher Funke. Die Seele, das ist das, was ich wirklich bin, was mich ausmacht. Sie ist weit mehr als mein Spiegelbild und als der gebrechliche Körper, den ich irgendwann einmal wieder ablege. Die Seele beschränkt sich nicht auf Gene und Gedanken, sie ist die Kraft, die mich lebendig sein lässt. Und sie weckt in mir eine Sehnsucht nach etwas, das weit über mich hinausgeht. Weil sie weiß, wo ich herkomme und wo ich hingehe. Sie kennt nicht nur das Ich, das ich bin, sondern auch mein göttliches Gegenüber.

Aber, wie hören Sie, wie hört Ihr diese Worte? Können wir loben, wenn wir an einer schweren Erkrankung leiden oder einen schmerzlichen Verlust erlitten haben? Dann, wenn wir eher die Zähne zusammenbeißen müssen, um nicht herauszuschreien, wie uns wirklich zumute ist, anstatt dass wir fühlen, wie sich unser Herz bei diesen Worten weitet.

„Lobe den Herrn, meine Seele...!“

Nein, verordnen kann man das nicht. Aber der Psalm beginnt auch nicht mit einer Verordnung. Er beginnt mit einem inneren Zwiegespräch. Die Seele kann und mag sicher nicht immer fröhliche Lieder singen. Manchmal ist sie ängstlich, traurig und verzagt. Oder sie ist müde, gelähmt und kraftlos. Manchmal drückt sie ihren Gemütszustand in unserer körperlichen Verfassung aus, die Mediziner sprechen dabei von Psychosomatik.

Aber wie kann unsere Seele wieder loben, wenn gesundheitliche, familiäre oder andere Probleme uns niederdrücken?

Wie können wir wieder fröhlich singen, wenn Gebrechen und Verderben uns im Griff haben?

Schauen wir einmal auf die Gesunden, auf die Wohlhabenden. Auf die, die Arbeit haben und mit Kindern gesegnet sind, denen gerade keine Schicksalsschläge zugemutet werden. Von denen gibt es doch eine ganze Menge in dieser Welt. Es müsste eigentlich ein Loben und Jubeln in unserer Welt zu hören sein.

Ist ein Loben und Jubeln zu hören in unserer Gesellschaft; die so voll ist von Klagen und voll von Gier nach Materiellem?

Auch dann, wenn es uns gut geht, nehmen das, was Gott uns Gutes getan hat, allzu oft als selbstverständlich hin. Eher selten erinnern wir uns daran, Gott dafür zu danken. Darum will uns der Beter des 103. Psalms daran erinnern:

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat...!“

Ganz bewusst will er einmal nicht auf das schauen, was unser Leben schwer und unerträglich macht, sondern auf das, was ihm immer schon an Gutem begegnet und geschenkt ist. Denn das Loben kann weder verordnet werden, noch von jetzt auf gleich einfach so aus uns herauskommen.

Darum schaut der Beter des 103. Psalms zurück.

Denn im Blick zurück entdeckt und erkennt er, was oft lange verschüttet und vergessen war und was Gott ihm alles Gutes getan hat. Im Blick zurück sieht der Beter, wo Gott seine Gebrechen geheilt hat, sein Leben vom Verderben erlöst hat. Ihn mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt hat, seinen Mund wieder fröhlich gemacht hat. Ihn wieder hat jung werden lassen, wie einen Adler.

Dieser Rückblick kann ihm neue Kraft schenken.

Seine Seele erinnert sich, wo sie in der Vergangenheit Gutes erlebt hat und kann daraus Positives und Stärkendes für die gegenwärtige schwierige Situation ziehen.

Der Blick auf das, wo Gott ihr herausgeholfen hat, auf das Glück, dass er ihr einstmals geschenkt hat, gibt ihr die Zuversicht, auch die jetzige schwierige Situation überstehen und meistern zu können. Indem wir das Gute unseres Lebens erinnern und ihm einen guten Platz in unserer Seele zuweisen, holen wir die Wirkkraft dieses Guten hinein in unsere Gegenwart.

Mir ging es im Januar so – eine Nachricht hatte mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich war orientierungslos und ängstlich mit Blick auf die Zukunft. Dann, nach ein paar Tagen, stand ich im Wohnzimmer und blickte auf eine Fotocollage, die meine Kinder mir zum 60. Geburtstag geschenkt hatten – mir wurde sofort wieder bewusst, wie viel Glück mir geschenkt war bisher in meinem Leben. Das gab und gibt mir die Zuversicht, auch die jetzige schwierige Situation überstehen und meistern zu können.

Indem wir das Gute unseres Lebens erinnern und ihm einen guten Platz in unserer Seele zuweisen, holen wir die Wirkkraft dieses Guten hinein in unsere Gegenwart. Und es kann geschehen, dass wir in aller Kraft- und Mutlosigkeit neu gestärkt und getröstet werden.

Wenn wir also die Psalmen mit- oder nachbeten, führen sie uns nicht wie in einem Wunder in einen Zustand des Heilseins. Aber sie zeigen uns einen Weg, unser eigenes Heil zu finden und heil werden zu können. Zum Heilwerden kann eben auch gehören, wie es Psalm 103 aufzeigt, dass ein Mensch um Vergebung bittet oder Vergebung schenkt.

Zum Heil werden kann es auch gehören, wenn einer für den anderen da ist, wenn einer barmherzig mit uns ist. Wenn einer unser Klagen und Zweifeln mit aushält. All davon erzählt Psalm 103.

„Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen.

Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat...!“

Loben kann heilsam sein, denn der Blick zurück lässt uns immer wieder entdecken, wovon der Psalm spricht: Dass alles Leben letztlich von Gott geschenktes Leben ist. Und dass Menschen in ihrer Not den Beistand Gottes gefunden haben.

Alles ist uns im Leben geschenkt; wir haben uns unser Leben nicht selbst verdient – wir sind in die Welt, in unser Umfeld, hinein geboren. Unsere Gaben, auf die wir so oft stolz sind, sind uns geschenkt – auf Zeit. Ein Unfall oder eine Krankheit - dann haben wir sie nicht mehr zur Verfügung. Mein Vater, ein lebenslustiger Mann: Mehrere Schlaganfälle führten bis zum Verlust des Sprachvermögens. In unserem Leben haben wir weitaus weniger im Griff, als wir das denken.

Wir müssen uns daran erinnern: Alles Leben ist letztlich von Gott geschenktes Leben. Und wir können uns daran erinnern, dass Menschen in ihrer Not den Beistand Gottes gefunden haben.

Das ermöglicht es dann auch vielleicht, das gegenwärtige Schicksal gelassener, getrösteter und getragener anzunehmen, weil wir im Rückblick sehen, dass Gott mitgeht.

So wünsche es ich uns allen.

 

Rüdiger Schaller, 28.05.2022

Autor des Buches: "In die Stille"

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