Hoffnung

Hoffnung

So viele Menschen rufen, wenn es zu Ende geht mir ihrem Leben nach ihrer Mutter. Die Mutter als Halt, Hilfe und Trost. Geborgen und geschützt sind wir im Mutterleib. Genährt und angenommen; angenommen und geliebt in unserem Sein.

Und jetzt in der Not in dieser Welt, in der Krise, der Bedrohung unserer Existenz. Dann wenn wir in unserer scheinbaren Sicherheit erschüttert sind, existentiell erschüttert sind: Der verzweifelte Ruf nach Halt. Das öffnet Tür und Tor für den großen Verführer: Den Freigeist, der Gemeinwesen zerstört und sich nur um sich selber dreht. Rein um seine eigene Nutzenoptimierung. Doch der gibt uns scheinbaren Halt, nach dem wir uns in unserer Angst so sehr sehnen.

Seit Urzeiten wurde die Hoffnung auf Frieden unendlich oft so grausam zerstört. Warum? Und woher kommen wir? Was trägt uns durch die Zeiten?

Ein Blick in die Geschichte. Vor Jahrtausenden schon wurden uns die Grundlagen unseres zumindest noch auf dem Papier gültigen Grundgesetztes gelegt. Die 10 Gebote. In Stein gemeißelt. Leitplanken, in denen das Leben gelingen kann. Angebote für ein erfülltes Leben.

Es geht um ein heute so verpöntes Thema: Die Sünde. Konkret Der Sünder handelt gegen die Liebe, das ist das eigentlich schlimme. Die Sünde zeigt an, dass der Mensch sich von Gott, seinem Ursprung, entfremdet hat. Wer in einer in sich abgeschlossenen Endlichkeit lebt, der bezahlt dies mit der Vorstellung des Todes als das absolute Ende des eigenen Seins. Wir sind nicht mehr authentisch und leben mehr und mehr in Gedankenwelten, die viel Lebensenergie binden. Die Liebe kann nicht mehr frei fließen. Das Gefühl der Gnade, das allein schon unser Leben ein Geschenk ist, bleibt blass. Und aus all dem Verdrängten kann dann auch Aggression und Gewalt erwachsen. Kälte, Krieg und auch Missbrauch gegenüber Schutzbefohlenen.

Ein kurzer Blick auf die sieben Todsünden. Sie sind keine Erfindung des Christentums. Schon archaische Völker im alten Orient wussten, dass es besonders schwerwiegende Verfehlungen gab, mit denen sich der Mensch von seinem göttlichen Ursprung trennt. Im Volk Israel wurden schon um 1000 v. Chr. elementare Regeln in Stein gemeißelt. Aus diesen Zehn Geboten lassen sich bestimmte Hauptvergehen ableiten.

Doch im Laufe der letzten Jahrhunderte gab es eine Bewegung hin zur Zivilisierung der Sünde. Was einmal als unmissverständlich sündhaft galt, als böse, unmoralisch, gott- und menschenfeindlich, ist zu großen Teilen dramatisch umgewertet worden. Aus einigen Todsünden wurden nach und nach Tugenden. An dieser Entwicklung lässt sich der gesellschaftliche Wandel von Werten und Moralvorstellungen nachvollziehen. Die Neubewertung der Laster zu nützlichen Eigenschaften oder gar Tugenden finden wir zuerst in der Renaissance, sie schritt in der Moderne weiter fort und ist bis heute nicht abgeschlossen. Ein Blick auf zwei der Sünden, die uns von Gott entfernen: Zunächst Geiz und Habgier.

Geiz und Habgier haben viele Gesichter. Wir erregen uns über die "Raffkes" in der politischen Klasse und die "Abzocker" in der Wirtschaft. Aber Habgier und Geiz sind kein Privileg der Mächtigen. Wir scheinen geradezu ein Volk von Schnäppchenjägern geworden zu sein, die eine seltsame Mischung von Geiz und Habgier praktizieren – möglichst viel haben wollen und möglichst wenig dafür bezahlen: Das Wort vom "Preis-Leistungs-Verhältnis" taucht in fast allen Unterhaltungen über Restaurantbesuche oder Urlaubsreisen spätestens im zweiten Satz auf. Wer fragt nach den Arbeitsbedingungen, unter denen das 1€-Shirt bei KIK hergestellt wurde?

Die Neubewertung zeigte sich auch schon im Kolonialismus. Seit dieser Zeit arbeiten zum Beispiel die Eliten Lateinamerikas einem Weltwirtschaftssystem zu, das den Globus heute klar in Gewinner und andere einteilt. Die extremen Gegensätze zwischen Arm und Reich produzieren hohe Gewaltraten. Der Freihandel, das ganze Weltwirtschaftssystem ist darauf ausgerichtet, dass die Starken billig Rohstoffe kaufen und verarbeitete Güter teuer verkaufen. Mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel Peru, das früher eine eigene Textilindustrie hatte, heute fast nur noch chinesische Waren einführt. Und ein Manager von Chiquita sagte mal: Die europäischen Kunden sind der Meinung, sie hätten ein Anrecht auf billige Bananen – da könne er doch keine höheren Löhne zahlen.

Nur eine weitere Sünde, zur Sünde der Trägheit: Die Trägheit nistet sich heute vor allem dort ein, wo sich der Rückzug aus der Verantwortung für den Nächsten als vorgeblich rationale Haltung, als Nichteinmischung tarnt. Trägheit ist heute vor allem Gleichgültigkeit. Sie zeigt sich im willentlichen Ignorieren fremder Schicksale. Sie ist die bequeme Neutralität, die uns nahelegt, uns rauszuhalten. Die Trägheit des Herzens – lassen wir uns noch berühren, von dem Leid in der Welt, der Not unseres Nächsten?

Das Konzept der Todsünden lädt dazu ein, unsere Fähigkeit zum Bösen anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen. Wir sind auch heute nicht automatisch "entschuldigt", nur weil wir eine wissenschaftliche Erklärung für unser Verhalten haben. Wir "sündigen" nicht, weil uns gesellschaftliche Verhältnisse dazu zwingen. Die Todsünden legen unseren Charakter als Ganzes bloß – man kann sie nicht abspalten, rationalisieren oder trivialisieren. Die Fähigkeit zum Bösen ist auch heute in uns – wir haben die Wahl, ob wir eine Grenze überschreiten oder nicht.

Wir Menschen haben die absolute Freiheit. Unser Leben ist von Beginn an ein unendlich wertvolles Geschenk.. Wir haben es uns nicht erarbeitet oder verdient. Wir leben rein aus Liebe – das ist Gnade. Gnade ist eine Wohltat, auf die kein Anspruch besteht. Das gilt im Rechtssystem ebenso wie in zwischenmenschlichen Beziehungen als Wohlwollen und Geschenk.

Doch mitten in den Schrecken dieser Welt, an den Grenzen unseres Lebens gerade auch mit Blick auf unser Leben und die ach so humane „Triage“, da kommen wir an die Grenzen unseres Verstehens, an die Grenzen der Existenz. Alles, was und bisher getragen hat, das verbirgt sich und wird unkenntlich. Wir merken erst an den Grenzen unseres Lebens, dass unser Glaube zu kurz greift. Dass er selbst an seine Grenzen kommt, dass er keine Antworten findet, wenn das Leben uns anfasst.

Gerade dann, wenn wir die Katastrophen nicht zuordnen können, nicht uns selbst und auch unserem eigenen technischen Versagen nicht, wer ist dann eigentlich dafür verantwortlich? Haben wir vielleicht den Stifter der Gebote, in deren Rahmen Leben gelingen kann, mit der Anmaßung totaler Macht für uns Menschen ihn nicht komplett hinaus komplimentiert aus unserem Denken und Leben?

Die Wahnsinnstaten von Menschen haben uns gerade im 20. Jahrhundert an diese Grenzen geführt. Das Projekt der Aufklärung, der Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit hat uns nicht eine Periode der Helligkeit, des ewigen Friedens beschert. Sondern Gewalt und Kriege gingen weiter. Sie erreichten neue und wieder neue grausige Höhepunkte. Der 1. September letzten Jahres als Beginn des nächsten ungeheuerlichen Schlachtens im 2. Weltkrieg ist uns dafür traurige Mahnung. Vor 80 Jahren zogen wieder Menschen ins Feld. Millionen mussten bezahlen. Mit Gott für Volk und Vaterland. Verglühende Atombomben standen am Ende. Und in den Lagern wurde gemordet. Auch im Abstand von 80 Jahren unfasslich. Welcher Hass und welche Gewalt möglich waren.

Und heute weiter auf die Spitze getrieben werden, in bisher nicht denkbaren Dimensionen. Wir haben uns so weit, so unendlich weit von unseren Wurzeln entfernt. Das ist so tragisch! Doch wo lernen wir unserer Gesellschaft das Bildungsfach „Herzensbildung? Das würde dem großen Verführer, dem entfesselten Freigeist sehr zu wider laufen, ihn gar in seiner Existenz und seiner Macht über die so ängstlichen, so scheinbar freien Menschen gefährden.

Was haben wir denn verloren? Die Rückbindung an unser Wesen, an unseren Wesenskern, der uns ausmacht.

Ein paar Impressionen dazu. Zur Liebe. Nein: Nicht Bauer sucht Nackedei. Es geht um die Essenz unseres Seins: Diese Art von Liebe ist langmütig und freundlich. Sie sucht nicht das ihre, sie bläht sich nicht auf und rechnetet das Böse nicht zu. Sie freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Sie hört nimmer auf…

So oder so ähnlich fühlt es sich im Mutterleib an, bevor wir auf diese Welt geworfen werden.

Und jetzt, im Ausnahmezustand wird offenbar, dass die vom Freigeist als der großer Spalter vermarktete Privatisierung des Glücks ein Betrug ist. An uns selbst und an der Menschheit. Die Antwort darauf muss Solidarität sein. Das war schon vor tausenden von Jahren das Angebot an die Menschheit.

Bis vor kurzem schien es so einfach zu sein. Die Sache mit dem Glück. Es gab so viele Ratgeber mit diversen Schritten zum Glück. Gelungenes Leben erschien als Ergebnis von Achtsamkeitskursen und Zeitmanagement. Wir alle haben es in der Hand! Das Glück kommt zu uns, wenn wir es einladen. Es braucht dafür nur die richtigen Techniken.

Doch stattdessen dämmert es vielen Menschen nun in der Abgeschiedenheit, im stillen Kämmerlein, dass etwas an dieser Erzählung nicht stimmt. Schon Aristoteles wandte sich gegen die offensichtliche Sozialvergessenheit. Das Glück des Einzelnen sei im hohen Maße von der Gunst der äußeren Umstände abhängig, das gelungene Leben des Einzelnen unweigerlich an die menschliche Gemeinschaft gebunden. So seine Ausführungen.

Das inzwischen vorherrschende Leistungsprinzip sieht nur geringe Eingriffe in die Marktmechanismen vor und geringe Absicherung des Einzelnen gegenüber unverschuldeten Notlagen. In den USA sind die Folgen einer solch radikal marktkonformen Ausrichtung der Gesellschaft im Krisenfall auf dramatische Art zu beobachten. Wachsamkeit ist geboten, die ersten in der aktuellen Kriese noch sanften Sirenengesänge der Top-Ökonomen von BackRocks Gnaden singen schon die ersten Warungen vor Verstaatlichungen zum Beispiel des Gesundheitswesens. Dass zuvor ausgenommen wurde zur Steigerung der Profite. Wachsamkeit ist notwendig.

Mit dem Ausbruch der Coronakrise erfolgt der gnadenlose Einfall der Objektivität. Die Vorstellung, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, für sein Glück zu sorgen, wird vom Virus als Ideologie entlarvt.  Der Virus sprengt den Rahmen der individuellen Verantwortung für das Wohlergehen, es überwindet die Mauern und Gräben der Wohlstandsgesellschaften, und es vertieft sie zugleich. Gesundheit und medizinische Versorgung sind auch eine Frage des Geldes. Und erst in der Quarantäne spüren viele nun, wie wenig sie doch aus sich selbst schöpfen können, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind.

Der kollektive, bange Blick auf die Infektionskurven ist vielleicht die Vorahnung eines anzustrebenden solidarischen Bewusstseins. Dafür, dass wir das Wohlergehen unserer Mitmenschen nie aus dem Blick verlieren dürfen. Das darf nie am Gartenzaun aufhören, dass muss weit über die „Außengrenzen“ getragen werden. Auch und gerade zu den so notleidenden Flüchtlingen, die wir im wahrsten Wortsinne „produziert“ haben. Für die wir verantwortlich sind. Gerade diesen Menschen muss sofort geholfen werden.

Und in alle den Turbulenzen halte ich mich an Augustinus: Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir, Gott. Das mir gibt Kraft und Ausrichtung, nicht zu verzweifeln. Und Mut zum Handeln.

 

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Rüdiger Schaller 29.03.2020

Autor des Buches "In die Stille"

 

Eine Welt, der Werte und Normen verloren gehen, ist eine tragische Welt:

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