Triage, Selektion von lebensunwertem Leben?

 

Schweißgebadet schrecke ich aus schwerem Schlaf auf. Der Albdruck will nicht weichen, auch nicht beim Blick aus dem Fenster in die erblühende Natur. Sonnenschein pur, strahlend blauer Himmel und prachtvolle, schneeweise Blüten eines Birnenbaums bieten sich mir dar. Klare, erfrischende Luft. Doch sie trägt den unsichtbaren Tod.

Ich bin wie gefangen in dem Traum. Einlieferung ins Krankenhaus mit dem neuen Virus, Atemnot. Das ist mir als Asthmatiker schon fast das ganze Leben über eine düstere Begleitung. Doch ein weiterer, gleichaltriger Patient wird eingewiesen – ohne Vorerkrankung. Nur noch ein rettendes Beatmungsgerät ist verfügbar. Mein Todesurteil. Ich werde ermordet, bin hilflos; wehrlos. Niemand, der mich schützt. Der Ehtikrat hat ja unendlich einfühlsam und wasserdicht die Kriterien entwickelt. Um die pflegenden Menschen in der so unendlich schwierigen Situation möglichst zu entlasten. Bei ihren Entscheidungen über Leben und Tod. Die Verwertbarkeit von Menschen entscheidet über ihr Weiterleben. Schönes Wortspiel für den Fakt von der Selektion von lebensunwertem Leben – Triage, das klingt so schön, so harmlos. Schrecklich, Schrecklich, so der Wehgesang der im Grunde verantwortlichen Politiker. Ein paar Krokodilstränen werden vergossen. Die Armen, die das entscheiden müssen. Und diese Politiker beschwören jetzt so sehr den Zusammenhalt, das Gemeinwesen. Es sind genau die Politiker, die das Gemeinwesen seit Jahrzehnten in die Spaltung treiben. Wo war da der Ethikrat? Was sagt er zu dem rein kapitalistisch getriebenen Denken, dass nur von den Kriterien der Verwertbarkeit und der Effizienz getrieben ist? Um sich selbst zu erhalten, muss der Kapitalismus sich immer tiefer in die Gesellschaft einfressen, sie zunehmend zerstören. Nur ein Blick auf das Gesundheitswesen: Es geht nicht mehr um das Grundrecht auf Gesundheit. Nein, es geht nur noch um das Recht auf Rendite der Kapitaleigner. Dies alles mit Hilfe von willfährigen Politkern und Politikerinnen, die auch selbst davon profitieren. Diejenigen, die für das Wohl der Menschen zuständig wären, haben sich in einer ganz eigenen Blase abgeschottet. Jüngst ein mehr als skurriles Possenspiel um die Atemmasken. Nun ja, alles im Griff der tollen Politiker. Doch jetzt sind eben mal die Älteren und diejenigen mit Vorerkrankungen dran. Finanzielle Kollateralschäden. Was für ein Ungeist wirkt da so hart, kalt und zerstörerisch?

Die Gesellschaft wird nach der Krise eine andere sein? Das war schon die Hoffnung nach dem letzten Weltenbrand. Die Wahnsinnstaten von Menschen hatten uns gerade im 20. Jahrhundert an Grenzen geführt. Das Projekt der Aufklärung, der Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit hat uns keine Periode der Helligkeit, des ewigen Friedens beschert, sondern Gewalt und Kriege gingen weiter. Sie erreichten neue und wieder neue grausige Höhepunkte. Der 1. September 1939 als Beginn des nächsten ungeheuerlichen Schlachtens im 2. Weltkrieg sollte uns eine traurige Mahnung sein. Es zogen wieder Menschen ins Feld. Millionen mussten bezahlen. Mit Gott für Volk und Vaterland. Verglühende Atombomben standen am Ende. Und in den Lagern wurde gemordet. Auch im Abstand von etlichen Jahrzehten unfasslich: Welcher Hass und welche Gewalt möglich waren. Und wie leise die Christen auf allen Seiten ihre Stimmen zum Frieden erhoben. Wahnsinn menschengemacht Und die Hoffnung auf eine bessere Welt stand am Ende. Doch heute zeigt sich u.a. an den kaputtgesparten Gesundheitssystemen die Bankrotterklärung der Menschlichkeit.

Und uns geht es noch gut, im Vergleich zu Italien, Spanien und allen voran Griechenland. Deren Gesundheitssysteme wurden kastriert, um am Tropf von „Europa“ zu bleiben.

Die Bankrotterklärung der Menschlichkeit zeigt sich auch an dem Trauerspiel um die Flüchtlinge an unseren Grenzen. Flüchtlinge, die vor den von uns gelieferten Waffen aus tödlichen Kriegen fliehen; Schutz suchen, doch in elendigen Verhältnissen vegetieren. Hohe Profite der Rüstungsindustrie stehen dagegen. Werden die über Panama oder andere Briefkastenfirmen dem Fiskus vorenthalten? Jetzt wird von Politikern gejammert, dass alle so teuer wird, doch schließen sie die Steuerschlupflöcher, deren sich ihrer Kumpanen ohne Schuldgefühl bedienen? Holen die Politiker die Billionen der Geldwäscher zurück? Ja, warum schrecken sie vor der Arretierung der Geldvermögen der Geldwäscher zurück?

Ich habe wenig Hoffnung, dass sich etwas grundlegendes in der Gesellschaft ändert. Die dem Großkapital – den BlackRocks der Welt - hörigen Politiker, die sich schon vor der Krise in Unfähigkeit übertrumpft hatten  - Mautdebakel, Handy- und Berateraffäre und ein Maskenmann als „Gesundheitsminister“ - die werden nach der Krise sich als Retter feiern lassen. Peinlich auch das Possenspiel um Intensivbetten und Anzahl von Pflegekräften. Die so beklatschten Pflegekräfte werden keinen Cent dauerhaft mehr erhalten. Die ausgelobte Prämie, damit werden nur die Überstunden abgegolten. Damit sie durchhalten.

Es ist so, auch ohne den Ehtikrat: Um sich selbst zu erhalten, muss der Kapitalismus sich immer tiefer in die Gesellschaft einfressen, sie zunehmend zerstören.

Bittere Zeiten? Ein Blick in die Geschichte der Menschheit: Geschichte wiederholt sich. Mächtige, scheinbar unbesiegbare Reiche entstanden. Sie erreichten große Machtfülle und rangen mit ihren Feinden um ihren Fortbestand. Doch am Ende zerfielen sie ins Nichts. Wir müssen uns bewusst werden, dass unser Leben von anderwärts einen Reichtum hat, nicht bloß aus uns und durch uns. Und mir ist sehr klar geworden, mein Leben ist endlich. Ich werde sterben. Durch Unfall; Krankheit oder Alter. Wann immer das auch sein wird, das liegt nicht in meiner Hand. Ja, ich habe Angst vor dem Sterben. Das erinnert mich an Karfreitag. Selbst Jesus verhandelte mit Gott im Sinne einer Verlängerung des Lebens. In höchster Seelennot, in der Stunde der Wahrheit, betete er in seiner Todesangst angestrengt. Das ist ähnlich dem Ringen von schwer kranken Menschen, die verschiedene Phasen durchlaufen, bevor sie ihr Sterben, ihren Tod annehmen; falls es ihnen gelingt.

Solange wir in dieser Welt sind, müssen wir immer wieder daran mit bauen, dass Schutzräume entstehen, in denen Leben gelingt. Das ist unsere Verpflichtung, geboren aus Mitgefühl für die Schwachen, die uns brauchen. Und auch die Schwächen im System gilt es unermüdlich aufzuzeigen und sich darüber für eine besser Welt einsetzen. Für eine Welt, in der Liebe und Mitgefühl regieren.

 

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Rüdiger Schaller 11.04.2020 - Ostersonntag

Autor des Buches: "In die Stille"