Ein Traktat für die Menschlichkeit

Wie wir die „Todsünden“ des gesellschaftlichen Lebens vermeiden und die Trägheit des Herzens überwinden.

Trägheit, Zeichnung aus der Serie "Die 7. Todsünde!, Eduard Ille, 19. Jh.

Wie wir die „Todsünden“ des gesellschaftlichen Lebens vermeiden und die Trägheit des Herzens überwinden. Habgier, Hochmut, Zorn… Die traditionellen Sünden der Kirche finden ihre Entsprechung auch im politischen Handeln. Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid Anderer scheint ein eher „passive“, lässliche Sünde zu sein. Sie hat aber nicht weniger schlimme Auswirkungen. Der Autor nennt in seinem Artikel eine ganze Reihe konkreter Beispiel – von einer restriktiven Flüchtlingspolitik bis hin zum Kaputtsparen unseres Medizinbetriebs. Und er stellt fest, dass es nicht immer ein leichter Weg ist, für das einzutreten, was man als die Wahrheit erkannt hat. Roland Rottenfußer

Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt“ (Sophie Scholl)

Bilder der Hoffnung, die müssen wir in der so polarisierenden Gesellschaft aufzeigen. Um Gräben zu überwinden, die unsere Gemeinschaft zerstört. Dem Untergang der Zivilisation wehren.

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt“: Ein verzweifelter Schrei der jungen Sophie Scholl in dunklen Zeiten. Der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Ihrer persönlichen Geschichte sowie auch die Geschichte Deutschlands bis zur Stunde „Null“. Hier ruhen die Wurzeln zur NSU 2.0. Die Wurzeln von Halle, Hanau und noch viel mehr. Dazu mehr an anderer Stelle. Erich Kästner, dessen Bücher an vorderster Stelle von den Nationalsozialisten in die Feuer geworfen wurden – kurze Zeit, bevor auch Menschen in die Feuer geworfen wurden - zeigte in dem Roman „Fabian“ auf, wohin die Trägheit des Herzens führen kann. Hierzu später mehr.

Für mich eine erschreckende Frage: Haben wir denn heute den Mantel der Gleichgültigkeit, der sich um unser Herz gelegt hat, wirklich zerrissen? Können wir heute wir heute lieben; nicht nur uns selbst? Nicht nur uns selbst und unsere Egooptimierung? Können wir Tugenden wie zum Beispiel Demut, Hingabe oder Großzügigkeit leben? Wenigstens: Wertschätzung des Gegenübers auf Augenhöhe, in gegenseitigem Respekt? Warum ist – ein wichtiger Aspekt des Respekts anderen Menschen gegenüber – Selbstreflektion so schwer? Nochmals: Können wir lieben und Brücken bauen, in diesem Zeitalter, das zunehmend vom Hass lebt. Im Internet, anderen Medien und der Hetze auf der Straße?

Hass und Hetze, die Geister der Vergangenheit, sie sind so lebendig wie auch damals. Ein Rückblick auf das Entstehen des Nazideutschlands. Auch heute werden unsere Lebensbereiche wieder zunehmen polarisiert. Nur ein Blick auf die USA, Trumps Wahnsinn, der sich wütend seine Bahn brach. Menetekel einer untergehenden Epoche; unserer Epoche. Wie Demokratien sterben; Es lohnt sich, das gleichnamige Buch von Daniel Ziblatt zu lesen. Parallel dazu das brillante Buch von Stephan Malinowski: „Die Hohenzollern und die Nazis“ – Geschichte nicht rückwärts gelesen, sondern die Entwicklung nach vorne bedacht. Diese Werke zusammen gedacht, zusammen mit dem Wutbürgern von heute, die jede vermeintliche Kränkung – warum auch immer – mit immer neue Hasskommentaren in die „sozialen“ Medien hinterlegen, das erschreckt mich: Geschichte wiederholt sich; als Mutante!

Woran leiden wir, woran leidet unsere Gesellschaft? Ich komme auf Erich Kästner zurück, er brachte es auf den Punkt: Wir leiden an der Trägheit des Herzens. Dies ist eine der 7 Totsünden.

Die 7 Todsünden. Sie sind keine Erfindung des Christentums. Schon archaische Völker im alten Orient wussten, dass es besonders schwerwiegende Verfehlungen gab, mit denen sich der Mensch von seinem göttlichen Ursprung trennt. Im Volk Israel wurden schon um 1000 Jahre v. Chr. elementare Regeln in Stein gemeißelt. Als Leitplanken für gelingendes Leben. Doch lassen sich darüber hinaus aus diesen Zehn Geboten bestimmte Hauptvergehen ableiten. Im Neuen Testament finden sich verschiedene darauf aufbauende Lasterkataloge, aber erst im Lauf der Kirchengeschichte hat sich die Siebenzahl der Todsünden herausgebildet.

Doch im Laufe der letzten Jahrhunderte gab es eine Bewegung hin zur Zivilisierung der Sünde. Was einmal als unmissverständlich sündhaft galt, als böse, unmoralisch, gott- und menschenfeindlich, ist zu großen Teilen dramatisch umgewertet worden. Aus einigen Todsünden wurden nach und nach Tugenden. An dieser Entwicklung lässt sich der gesellschaftliche Wandel von Werten und Moralvorstellungen nachvollziehen. Die Neubewertung der Laster zu nützlichen Eigenschaften oder gar Tugenden finden wir zuerst in der Renaissance, sie schritt in der Moderne weiter fort und ist bis heute nicht abgeschlossen. Ein Blick auf eine der Sünden, die uns von Gott, von der Liebe, entfernen: Die Sünde der Trägheit: Die Trägheit nistet sich heute vor allem dort ein, wo sich der Rückzug aus der Verantwortung für den Nächsten als vorgeblich rationale Haltung, als Nichteinmischung tarnt. Trägheit ist heute vor allem Gleichgültigkeit. Sie zeigt sich im willentlichen Ignorieren fremder Schicksale. Sie ist die bequeme Neutralität, die uns nahelegt, uns rauszuhalten. Die Trägheit des Herzens – lassen wir uns noch berühren, von dem Leid in der Welt, der Not unseres Nächsten? Nur ein Blick auf die Flüchtlinge im Mittelmeer, Kroatien, Jemen, Belarus…

An dieser Stelle noch ein Blick auf eine weitere Todsünde, die unser Gemeinwesen zerstört: Geiz und Habgier.

Geiz und Habgier haben viele Gesichter. Wir erregen uns über die "Raffkes" in der politischen Klasse, die Maskenmänner und die "Abzocker" in der Wirtschaft. Aber Habgier und Geiz sind kein Privileg der Mächtigen. Wir scheinen geradezu ein Volk von Schnäppchenjägern geworden zu sein, die eine seltsame Mischung von Geiz und Habgier praktizieren – möglichst viel haben wollen und möglichst wenig dafür bezahlen: Das Wort vom "Preis-Leistungs-Verhältnis" taucht in fast allen Unterhaltungen über Restaurantbesuche oder Urlaubsreisen spätestens im zweiten Satz auf. Wer fragt nach den Arbeitsbedingungen, unter denen das 1€-Shirt bei KIK hergestellt wurde?

Die Neubewertung zeigte sich schon im Kolonialismus. Seit dieser Zeit arbeiten zum Beispiel die Eliten Lateinamerikas einem Weltwirtschaftssystem zu, das den Globus heute klar in Gewinner und andere einteilt. Die extremen Gegensätze zwischen Arm und Reich produzieren hohe Gewaltraten in den armen Ländern. Der Freihandel, das ganze Weltwirtschaftssystem ist darauf ausgerichtet, dass die Starken billig Rohstoffe kaufen und verarbeitete Güter teuer verkaufen. Mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel Peru, das früher eine eigene Textilindustrie hatte, heute fast nur noch chinesische Waren einführt.

Todsünden? Damit will uns die Kirche doch nun Angst machen, nicht wahr? Leider war das oft der Fall in der Kirchengeschichte.

Doch das Konzept der Todsünden lädt dazu ein, unsere Fähigkeit zum Bösen anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen. Wir sind auch heute nicht automatisch "entschuldigt", nur weil wir eine wissenschaftliche Erklärung für unser Verhalten haben. Wir "sündigen" nicht, weil uns gesellschaftliche Verhältnisse dazu zwingen. Die Todsünden legen unseren Charakter als Ganzes bloß – man kann sie nicht abspalten, rationalisieren oder trivialisieren. Die Fähigkeit zum Bösen ist auch heute in uns – wir haben die Wahl, ob wir eine Grenze überschreiten oder nicht.

Durch Christus sind wir Befreit zur Freiheit – befreit vom Gesetz. So können wir uns aber auch auf einen Weg begeben, der weg von Gott führt. Das kann auch mal so ganz unmerklich und unterschwellig passieren.

Todsünden, das Werk des Teufels? Der lacht über seine Abschaffung durch die Wissenschaft. Selbst der atheistische Philosoph Friedrich Nietzsche, der mit seinem Ruf „Gott ist tot!“ spektakulär für Aufsehen gesorgt hatte, weiß um die Tragik dessen, was er sagt: Nein ein Leben ohne Gott ist eine tragische Welt. Weil ihr die Grundlage von Normen und Werten verloren geht und weil sie auf ein wesentliches Problem keine Antwort hat: Nämlich auf die Frage des Todes.

Die Polarisierung, zunehmend unversöhnlicher, in unserer Gesellschaft nimmt rasant zu. Das erschreckt mich: Es liegt ein dunkler Schatten über Gottes Schöpfung. Denn viele Menschen in den westlichen Gesellschaften wollen heute nur noch auf ihre Kosten kommen. Das Leben muss Spaß machen. Abwechslung ist gefragt, ständig muss Neues erlebt werden.

Die Wertvorstellungen für unser Leben sind durch einander geraten. Wir sind uns schon nicht mehr einig darin, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat – auch derjenige, der zum Sozialprodukt nichts beizutragen kann, weil er behindert, krank oder zerbrechlich ist. Oder weil er Flüchtling ist. Ganz aktuell zum Ende des Jahres 2021, mitten im Beginn der 4. Coronawelle: Das verratene medizinische System. Es wurde von Experten lange gewarnt, dass diese Welle kommt. Doch nun stellen sich Politiker hin, uns sagen, sie wären völlig überrascht von der Dynamik der Welle. Was ist auch mit Blick auf die Pflegekräfte und deren Situation in der Zwischenzeit passiert: Nichts! Nicht nur das medinische System wurde verraten, nein wir alle. Wie sagte es ein befreundeter Unternehmer, ein ehrbarer Mann, die sich in viele soziale Projekte einbringt: Pflegekräfte entsprechend ihrer Leistung zu bezahlen – das kostet Geld. Punktgenau seine Analyse.

Geld? Das ist im Übermaß vorhanden. Nur ein Blick auf die BlackRocks der Welt, sowie auf die Merzens und die Sauters sowie andere Maskenprofitoure, die in der Notlage sich selbst bereicherten; nur ein Beispiel von so vielen.

Auch Unternehmerdynastien streichen Millionen an Dividenden in der Coronakrise ein, während die Steuerzahler - also wir Normalverdiener - die Kurzarbeit dieser Unternehmen bezahlten. Reiche und Superreiche fliegen in das Weltall – und lassen ihre Unternehmen mit Steuergeldern finanzieren. Nur ein Beispiel: Tesla in Brandenburg. Geld für die ganze so sehr leidenden Welt ist genug da. Es ist nur extrem ungleich verteilt. Die Gier – eine der Todsünden - sie zerfrisst die Gemeinschaft.

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt“

Hoffnungsbilder. Wer kann sie heute noch den Menschen nahebringen? Vielleicht der Humanismus oder die Aufklärung? Nein. Die Wahnsinnstaten von Menschen haben uns im 20. Jahrhundert an Grenzen geführt. Das Projekt der Aufklärung, der Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit hat uns nicht eine Periode der Helligkeit, des ewigen Friedens beschert, sondern Gewalt und Kriege gingen weiter. Sie erreichten neue und wieder neue grausige Höhepunkte. Der 1. September 1939 als Beginn des nächsten ungeheuerlichen Schlachtens im 2. Weltkrieg ist uns heute dafür eine traurige Mahnung: Wieder zogen Menschen ins Feld. Millionen mussten bezahlen. Mit Gott für Volk und Vaterland. Verglühende Atombomben standen am Ende. Und in den Lagern wurde gemordet. Auch im Abstand von so vielen Jahren unfasslich. Welcher Hass und welche Gewalt möglich waren. Und wie leise die Christen auf allen Seiten ihre Stimmen zum Frieden erhoben. Und heute? Nur ein Blick auf den Jemen, Syrien und die Außengrenzen der EU, Ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis. Für was eigentlich?

Wo erheben wir Christen heute unsere Stimmen? Ein sehr hoffnungsvolles Zeichen: Das Kirchenschiff. Zur Rettung der Menschen im Mittelmeer. Oh wie wurde diese Aktion angefeindet! Doch sie ist aktiv und rettet hilflose Menschen vor dem Ertrinken.

An den Außenmauern der EU, da wird es sehr deutlich, wie es um die EU der „Christen“ bestellt ist: Was ihr dem Geringsten antut, das tut ihr mir an. So sagte es Jesus.

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt“, so schrie es Sophie Scholl in dunklen Zeiten.

Ja, wir Christen haben Hoffnungsbilder! Die sind durchaus polarisierend, aufrüttelnd. Das Gleichnis von Lazarus und dem reichen Mann: Der eine lebt in Saus und Braus, der andere ist krank, hat Geschwüre und liegt vor der Tür des Reichen. Der Reiche kümmert sich nicht um den armen und geschundenen Menschen. Beide sterben. Lazarus kommt in das Reich Gottes, der reichte Mann quasi in die Hölle. Er leidet so stark und ruft verzweifelt zu Abraham: Bitte hilf mir doch. Doch die Antwort: Du hattest im Leben Deine Belohnung gehabt, Lazarus hat sie nun. Dieses Bild soll und aufrütteln, in Verantwortung für unser Tun, aber auch für unser Unterlassen bringen. Nicht nur die Außengrenzen der EU lassen grüßen. Ein Appell an jeden Einzelnen von uns. Spannend der Blick auf die so reiche EU, die so viele wie Lazarus vor den Grenzen der EU zur „Abschreckung“ elendig leiden lässt.

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt“.

Nochmals eine „anstößige“ Bibelstelle (Matthäus 10, 34 – 39), die aufrüttelt:

34 Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. 35 Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. 36 Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. 37 Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. 38 Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. 39 Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden. Soweit der Text aus der Bibel.

Brutal und Widerwärtig! – so zürnte ein entfernter Bekannter. Ich hatte vor ein paar Tagen beiläufig die heutige Bibelstelle erwähnt. Er ereiferte sich weiter: Da, selbst in der Bibel steht, dass Euer angeblich friedlicher Jesus ein Spalter gewesen ist. „Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Und auch Familien will er spalten! Der Bekannte hatte sich so in Rage geredet, dass wir das Gespräch abbrachen.

Das Wort vom Schwert kann irritieren. Das klingt nach Gotteskrieger und nicht nach Friedensstifter. Und auch das Christentum hat dunkle Flecken in seiner Vergangenheit. Nicht zuletzt rund um dem Reformations- und dem Volkstrauertag wird uns dies nur allzu schmerzlich bewusst, dass im Namen des Christentums viel Blut vergossen wurde. Doch ist es heute unstrittig, dass Krieg und Zerstörung nicht biblisch legitimiert werden können.

Aber zu dem Jesus Christus, wie wir ihn aus den Erzählungen der Evangelisten kennen, scheint dieser Satz nicht zu passen. Im Gegenteil: Ist es nicht Jesus, der Petrus auffordert: stecke dein Schwert zurück! Jesus warnt doch gerade vor Gewalt. Er redet von Liebe und von Wahrheit, von Hoffnung und Vertrauen. Jesus bringt den Menschen die Liebe Gottes nah, er geht zu den Kranken. Redet mit den Hilflosen und hilft Menschen in ihrer Not. Wie sollte er Unfrieden bringen und das Schwert? Der Vers aus dem Matthäusevangelium stört unser Bild des liebevollen, tröstenden und heilenden Jesus.

Beim Blick auf den Gesamtzusammenhang des Predigttextes wurde mir klar, dass die Reaktion meines Bekannten eine heutzutage typische Reaktion ist. Es wird etwas aus dem Gesamtzusammenhang gerissen und damit im Wesenskern verfälscht. Heraus kommt dann oft nur die Bestätigung eigener Vorurteile. Und Zwiespalt, bis hin zum Hass.

Die Verse stehen in der sogenannten Aussendungsrede. Die Jünger werden auf das vorbereitet, was sie erwartet, wenn sie Jesu Botschaft weitertragen. Das wird keine harmonische Wanderung mit ein paar moralischen Weltverbesserungsideen. Es geht um Nachfolge, um das Radikale der christlichen Botschaft. Diese Radikalität eckt mitunter an und verträgt keine faulen Kompromisse um des-lieben-Friedens willen. Damals wie heute. Wer sich in der frühen Kirche taufen ließ, wandte sich vom Kult der Familie ab und wurde zum Außenseiter. Das brachte Konflikte in den Familien mit sich.

Die christliche Botschaft – auch die Friedensbotschaft – fordert heraus. Sie fordert mich heraus und ich ringe darum, was sie für mich bedeutet. Jesu Worte fordern uns auf unsere Komfortzone zu verlassen und Stellung zu beziehen. Das kann auch schmerzhaft sein – in der Familie, am Arbeitsplatz oder im Freundes- und Bekanntenkreis. Jesu Rede vom Konflikt zwischen den Menschen und vom Kreuz-auf-sich-nehmen beschreibt eher die Realität als ein zukünftiges düsteres Szenario.

Als der Evangelist Matthäus diese Worte Jesu aufschreibt, liegen Tod und Auferstehung Jesu länger als 40 Jahre zurück. Mütter und Väter erleben, wie Kinder sich gegen ihre jüdischen Eltern auflehnen, weil sie sich für die Botschaft Jesu bekennen. Und die, die sich zu einer christlichen Gemeinde zusammenschließen, erfahren nicht nur Ablehnung, sondern werden wegen ihres Glaubens verfolgt. Wer sich zu diesem Jesus von Nazareth bekennt, verliert seine soziale Anerkennung, wird ausgegrenzt und verfolgt.

Jesus will seine Jünger auf das vorbereiten, was sie erwartet, wenn sie seine Botschaft weitertragen: Ihr sollt nicht das Schwert in die Hand nehmen, aber die Schwerter, also die Schärfe und der Widerstand der Menschen um Euch herum, die werden Euch bedrohen. Und sie werden euch bekämpfen. Wenn ihr mir nachfolgt, dann wird diese Nachfolge kein Spaziergang sein, sondern es wird eine Entscheidung sein, die Euch den Hass und die Feindseligkeit vieler Menschen eintragen wird. Und das geht bis hinein in eure Familien: eure Mütter und Väter werden Euch bedrohen, eure Nachbarn werden Euch verleumden und der Hass der Menschen wird euch verfolgen.

Die Geschichte nach Jesus hat seinen Worten Recht gegeben, es ist eine Geschichte der Verfolgung von Christinnen und Christen durch das römische Reich. Das Christsein wurde zum staatlich sanktionierten Verbrechen, nach den Christinnen und Christen wurde gefahndet. Als der römische Kaiser Decius alle Bürgerinnen und Bürger verpflichtete, den römischen Göttern zu opfern, waren Christinnen und Christen besonders gefährdet: Jede Bürgerin und jeder Bürger hatte vor einer Kommission zu erscheinen und öffentlich zu opfern. Dafür erhielten sie oder er die sogenannte Opferbescheinigung. Wer sich weigerte, konnte mit dem Tod bestraft werden. Christinnen und Christen, die nur an den einen Gott, den Vater Jesu Christi glauben, konnten sich dieser Opferpflicht nur durch Flucht entziehen und wurden durch die römischen Behörden verfolgt. Es kam zu teils sehr blutigen Christenverfolgungen.

Christlicher Glaube war und ist keine Privatsache. Christlicher Glaube lebt von der Authentizität. Dass ich das sage, was ich tue und das tue, was ich sage. Wer Gottes Liebe, die allen Menschen gilt, verkündigt, wird sich mit denen auseinanderzusetzen haben, die die Menschenrechte mit Füßen treten. Wer von einer gerechten Welt redet und dafür kämpft, wird sich mit denen auseinanderzusetzen haben, die ungerechte Arbeitsbedingungen beibehalten wollen: Nur ein Blick in die Schlachthöfe unserer Zeit. Wer sagt, dass wir Verantwortung gegenüber allen haben, die Hilfe nötig haben, wird sich mit denen auseinanderzusetzen haben, die nur den Erfolg und die Leistungen von Menschen würdigen. Lebenswertes Leben – oder es kostest doch nur? Und ein Blick auf die, die absolut nur dem Profit huldigen – der Pflegenotstand und die Fallpauschalen lassen grüßen. Wer von der Bewahrung der Schöpfung redet, wie Greta Thunberg, der wird sich mit denen auseinanderzusetzen haben, die den Klimawandel leugnen und meinen, die Natur sei ihr Besitz. Kurz nach ihrer Rede vor den Vereinten Nationen, meldete sich Greta Thunberg auf Twitter. Sie schrieb: „Wie ihr vielleicht bemerkt habt, sind die Hater so aktiv wie eh und je – greifen mich, mein Aussehen, meine Kleidung, mein Verhalten und meine Besonderheiten an. Sie denken sich jede erdenkliche Lüge und Verschwörungstheorie aus.“

Erschreckend auch der Hass, der dem Kirchenschiff entgegenschlugt: Rettung von hilflosen Flüchtenden vor den von uns erzeugten Kriegen.

Weitsichtig erkennt Jesus, dass die Nachfolge seiner Jünger nicht ohne Konsequenzen bleiben wird. Aber er weiß auch, dass es für die Nachfolge keinen anderen Weg gibt, halbgarer christlicher Glaube verträgt sich nicht mit dem Anspruch der Eindeutigkeit von Gottes Liebe, die allen Menschen gilt. 

Wer sich als Christin und Christ äußert und Partei ergreift für die Armen, für die Flüchtlinge, für die Namenlosen, für die Schwachen, der muss damit rechnen, dass er von Rechtspopulisten, von Stammtisch-Wortführern und von Ewig-Gestrigen angefeindet, verleumdet und attackiert wird. Das ist der Preis, den wir für unseren Glauben zahlen müssen. Auch wenn uns dabei der Wind um die Ohren bläst: Wir, haben den Auftrag, uns in der Welt zu engagieren. Und zu protestieren, wenn die Schwerter geschärft werden. Wenn menschliches Leben und menschliche Würde bedroht sind. Wir können das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht lesen ohne zugleich über das Schicksal der Flüchtlinge nachzudenken. Wir können die Geschichte vom Turmbau zu Babel nicht predigen ohne zugleich die Hybris und die Anmaßung der Mächtigen zum Thema zu machen.

 

Die biblischen Erzählungen sind keine antiken Berichte, die nur als historische Dokumente gelesen werden wollen. Es sind Erzählungen, die in unsere Zeit hineinreichen und unsere Grundlage dafür sind, uns in den politischen bzw. gesellschaftlichen Diskurs einzumischen.

Wir Christen sind verpflichtet, an einer besseren Welt mitzubauen, auch wenn dieses Engagement Konsequenzen zeigt und uns von Menschen trennt. Die Aufgabe der Kirche – und das sind, wir, jeder Einzelne von uns - ist und wird bleiben, politisch zu sein. Das heißt sich nicht selbstgenügsam zurückzuziehen, sondern protestantische Kirche im Wortsinn zu sein. Wer in der Nachfolge Jesu ist, muss sich zu Wort melden, auch wenn die Botschaft des Kreuzes – so schreibt es Paulus – vielen ein „Ärgernis“ ist.

Christliche Verkündigung ist keine Wellness-Veranstaltung, in der ich dafür sorge, dass es mir besser geht. Christlicher Glaube hat zuerst die im Blick, die sonst nicht gehört und gesehen werden. Wenn wir mithelfen, dass Blinde sehen, Lahme gehen und Kranke wieder rein werden, dann sind wir dem Reich Gottes einen Schritt näher. Wenn wir Unbequemes sagen, geraten wir sicherlich in die Schusslinie. Das ist kein „Systemfehler“, sondern die Konsequenz der Nachfolge Jesu.

Es liegt an mir, an Dir, mitzubauen an den verletzlichen Schutzmauern, in denen Leben gelingen kann. Hoffnungsbilder!

„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um Euer Herz gelegt“. Es liegt an uns, die Trägheit des Herzens zu überwinden.

 

Intro: Roland Rottenfußer - Chefredakteur bei "Hinter den Schlagzeilen" https://hinter-den-schlagzeilen.de/

Rüdiger Schaller, 27.11.2021

Autor des Buches: "In die Stille"

Weitere Blogeinträge: Blog (perfectsounds.de)

Zur NSU 2.0: ein paar Gedanken im Blogeintrag "Die Stunde 0, NSU und Polizeicomuter"